Ein Unterschied wie Tag und Nacht

Vor fast einem Jahr habe ich nach einer langen Phase vollkommener Verzweiflung, die ich sogar in verschiedenen Blogposts verewigt hatte (hier, hier und hier), einen finalen Hilferuf gestartet (hier). Ich konnte nicht mehr und wusste einfach nicht mehr weiter. Das völlige Durchdrehen meiner Tochter hat mich fertig gemacht. Ich wollte nicht mehr täglich weinen und ich wollte sie nicht mehr täglich brüllen hören. Es musste aufhören. Die Lösung, die bis dahin von außen an mich herangetragen wurde, sah durchweg vor, dass ich auf Kur gehen soll. Das sollte Entlastung für mich sein. Eine Rehamaßnahme für drei Wochen, ein Kuraufenthalt. Wie ich das organisieren und finanzieren soll, hat mir zwar niemand so richtig verraten können, aber den meisten schien klar, dass ich das Problem bin.

                                                

Das ist eigentlich ziemlich einfach, die Mutter zum Problem zu machen, wenn alle Profis rundrum nicht mehr weiter wissen. Gerade Mütter von Kindern mit Behinderung sind ja eigentlich ständig am Limit, sie sind permanent überfordert, erschöpft, frustriert, hilflos - ach, die Liste ist lang. Und es ist wirklich total simpel, dann genau darin das Problem zu sehen. Die Mutter muss raus. Dabei haben die meisten Mütter ganz andere Ideen. Für die meisten Mütter ist beispielsweise diese ewige Bürokratie ein echter Energiefresser. Gerade jetzt bin ich selber wieder an so einem Punkt, an dem es mich - Entschuldigung - ankotzt, wirklich aus tiefster Seele ankotzt, dieses ewige beantragen, erinnern, widersprechen. Sitzschale, Schiebehilfe, Augensteuerung - nichts davon krieg ich auf Anhieb durch und es KOTZT MICH AN! Und so geht es den meisten Eltern von behinderten Kindern. Wenn wir schon Ansprüche haben, dann bewilligt und halt das, was wir brauchen und Ihr Ratgeber, übernehmt Ihr es doch, die Anträge, das Nachhaken, das Widersprechen. DAS würde uns helfen und entlasten. Aber das ist leider Utopie. Statt dieses Prozedere zu vereinfachen, werden wir Mütter häufig als Ursache aller Schwierigkeiten abgestempelt, weil wir mit Situationen nicht gut umgehen, adäquat oder wenigstens so, dass es für die Umwelt erträglich ist.

Vor einem Jahr hat mein Bauchgefühl mir gesagt, dass es das Problem nicht löst, sondern nur verschiebt, wenn ich jetzt tatsächlich eine Rehamaßnahme starten würde (wenn das überhaupt ginge). Eine Woche Urlaub mit mir ganz alleine hätte ich attraktiv gefunden, war aber völlig undenkbar. Aber im Ergebnis war mein Gefühl, es muss sich insgesamt an der Situation etwas ändern, es liegt einfach nicht an meiner Sichtweise oder an meinem Erschöpfungszustand. Und so hab ich laut um Hilfe gerufen. Und die kam. 
Zunächst hatten sich ein paar Mamas bei mir gemeldet, die ähnliche Erfahrungen hatten. Lösungen hatten sie zwar leider auch nicht so recht, aber das Bewusstsein, ich bin tatsächlich mal wieder nicht ganz alleine, hat schon etwas geholfen. Und dann geschah ein Wunder. Eine ganz liebe Facebook-Freundin, die ich bisher nicht mal persönlich kennengelernt habe, hatte eine Idee. Eine Freundin von ihr wäre Ergotherapeutin mit tollen Ansätzen. Und sie hat den Kontakt zwischen uns hergestellt.

Was eine Ergotherapeutin am Durchdrehen meines Kindes ändern kann, hat sich mir zwar gar nicht erschlossen, aber hey, ich hatte absolut überhaupt nichts zu verlieren. Was uns in den nächsten Wochen und Monaten dann "passiert" ist, grenzt für mich nach wie vor an ein kleines Wunder. 
Die erste Sensation stand schon an, als die Therapeutin zu uns nach Hause kam. Ja, tatsächlich macht sie Hausbesuche und gerade in einer Situation, die mit waschen, kämmen, duschen, anziehen, ausziehen etc. zu tun hat, ist es wertvoll, wenn man das im häuslichen Umfeld präsentieren kann und nicht in einer Praxis nachstellen muss. Mal abgesehen davon, dass es maximal entspannt ist, wenn man nicht überlegen muss, wann sondiere ich, wo parke ich, wieviel Zeit muss ich einplanen, sondern wenn man seinen Tag einfach nur um die Stunde der Therapie herum planen kann.

Es hat nur wenige Termine gebraucht, als unsere Susi, die von unserer Maus sehr gemocht wird, auf die Idee kam, ein paar Testungen zu machen. "Nicht integrierte, frühkindliche Reflexe" war das Ergebnis dieser Tests und plötzlich machte alles für mich Sinn. Wenn meine Tochter immer wieder in Bewegungsabläufe gezwungen wird, die ihr sehr unangenehm sind, bzw. die für sie gar nicht funktionieren, ist es ja nur logisch, dass sie völlig freidreht. Wenn dann noch mehrere Abläufe hintereinander in einem Zeitraum auf sie einprasseln, den sie einfach nicht verarbeiten kann, dann wird es kritisch für sie. Ich hatte noch nie davon gehört, dass es so etwas gibt, aber wir haben begonnen, daran zu arbeiten. Jede Woche, jeden Tag. Es wurde mit jedem Mal besser. Wir haben Bewegungsabläufe geübt, immer und immer wieder. Immer wieder ein wenig mehr, immer wieder etwas Neues.

Gestern Abend war wieder duschen angesagt und Haare waschen, vorher Physiotherapie. Ich möchte jetzt nicht behaupten, dass es völlig ohne Schreien abging. Aber das waren kurze Momente. Wenn das Turnen zu anstrengend wurde - das kann ich akzeptieren, denn sobald es gemütlich wurde, war es wieder gut. Transfer ist nach wie vor nicht angenehm, da wird aber nur kurz gemeckert, das halte ich aus. Haare kämmen ist wirklich blöd, das ziept, das kann ich ab. Unterm Strich war die komplette Pflege aber gar nicht tragisch. Meckerphasen ohne dick verheulte Augen bei der Motte, gar keine Tränen bei mir und am Ende des Tages das Gefühl, dass Mutter und Tochter wieder ein richtig gutes Team sind. Ein Unterschied wie Tag und Nacht zur Situation vor einem Jahr. 

Inzwischen habe ich besser verstanden, worin das Problem liegt. Hektik geht nicht, sie in ihrer Selbständigkeit unterstützen funktioniert dagegen prächtig. Sie kann ihre Arme ganz wunderbar ausstrecken, wenn sie angezogen wird, man muss ihr nur den richtigen Impuls und die nötige Zeit geben. Alle Abläufe haben wir angepasst. Nur, wenn es insgesamt hektisch wird, weil wir es eilig haben, klappt es nicht gut, aber das ist nicht außergewöhnlich, das Problem haben alle Eltern. Im Normalfall funktionieren die angepassten Abläufe aber großartig. Und alle, die die Empfehlungen ernst nehmen und sich ebenfalls auf die Änderungen einlassen können, werden genauso belohnt wie ich mit einem weitgehend friedlichen, nicht brüllenden, sondern nur noch kurz meckernden Kind.

Ich kann also alle Mütter da draußen nur immer wieder ermutigen, auf ihr Bauchgefühl zu hören. Und falls jemand ähnliche Situationen erlebt, wie wir vor einem Jahr, lohnt es vielleicht ebenfalls, mal mit einem erfahrenen Ergotherapeutin Kontakt aufzunehmen, der neurologisch arbeitet. Falls jemand hier im Münchner Osten ist, den oder die vermittle ich gerne an unsere Susanne. Ich kann sie wärmstens empfehlen, weil sie zuhört, mitdenkt und dabei noch empathisch ist. Und für unseren Fall hat sie auch den richtigen Praxisnamen, denn Durchdrehen ist ja irgendwie "Kopfsache". 




Kommentare

  1. Das ist aber ein sehr schöner Fortschritt. Ach wie gut dass es so fähige Leute, wie Susanne gibt (Ich kenne sie übrigens auch).
    Gruß Christine

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