Gewitter - auch im Kopf

Gestern gab es hier ein heftiges Gewitter mit ordentlich Blitz und Donner. Es hat zur Stimmung gepasst, denn Blitze haben wir hier seit Monaten auch. Die sind nur anders sichtbar und finden im Kopf unserer Prinzessin statt. Gewitter im Kopf von dem niemand weiß, warum es sich seit Monaten immer wieder so heftig entlädt und warum so gar nichts dauerhaft dagegen hilft. Das echte Gewitter gestern habe ich als richtig bedrohlich empfunden, obwohl mir Gewitter eigentlich nichts ausmachen. Und genauso geht es mir mit dem Gewitter im Kopf unserer Prinzessin. Es ist bedrohlich für mich.


Seit März haben wir - dank Corona - keine Infekte mehr zu bekämpfen in unserem Haushalt. Ist auch logisch, unsere Maus kann sich ja nichts mehr einfangen. Niemand kann etwas einschleppen, sie hat keinen Kontakt zu jemandem, der sie anstecken könnte und wir Eltern auch nicht.
Dafür kam die Epilepsie mit voller Wucht zurück und das hat mich ganz schön aus der Kalten erwischt. Es kam plötzlich und geht auch irgendwie nicht mehr weg. Egal was wir versucht haben, nichts hilft dauerhaft. Wir haben Medikamente gesteigert, umgestellt, ohne nennenswerten Erfolg. Wir wissen, dass das EEG sich seit Dezember messbar verschlechtert hat, warum weiß niemand. So häufig, wie die arme Maus in den letzten Wochen ein Notfallmedikament gebraucht hat, weil die Anfälle oder Anfallsserien nicht mehr aufgehört haben, hat sie es in ihrem ganzen Leben bislang nicht benötigt. Das ist bitter.

Bislang war es so besprochen, dass wir innerhalb von zwölf Stunden zwei Mal etwas geben dürfen zum Unterbrechen und dann müssen wir in die Klinik. Der Plan wurde schon modifiziert und erweitert, inzwischen sind wir bei drei Gaben innerhalb eines kürzeren Zeitraums, allerdings immer mit intensiver Rücksprache mit unserem Palliativteam. Seit dem letzten Klinikaufenthalt ist das Team wieder mit im Boot und die Entscheidung war gut. Nach wie vor sieht der Plan eigentlich vor, dass wir in die Klinik fahren nach einer gewissen Anzahl von notwendigen Interventionen, aber urplötzlich fühlte sich genau das falsch für mich an. Es dauerte eine Weile bis ich mein Schwanken von schlechtem Gewissen hin zu einer Gewissheit lenken konnte. Geholfen hat mir dabei der gute Rat einer lieben Freundin. "Lass alle Deine Gefühle zu und hör hin, wie es Dir damit geht". Guter Rat und ich hab gut hingehört.

Seit geraumer Zeit ist die Gesamtsituation unentspannt. Unsere Motte ist sehr unentspannt. Egal was ich mit ihr tun muss, ob waschen, kämmen, turnen oder anziehen, alles wird von fürchterlichem Gebrüll begleitet. Und ich spreche hier wirklich nicht von ein wenig Gemeckere, ich spreche von Brüllen aus Leibeskräften mit Verwinden des Körpers, mit Treten, Schlagen, mit einer sehr, sehr langen Dauer. Eine halbe Stunde, eine Stunde, alles möglich. Auch da kann niemand bislang sagen, woran das liegt. Ich weiß nur, dass es für mich nicht mehr auszuhalten ist. Lange hab ich alles durchgezogen wie bislang, vor allem die Physiotherapie. Mit dem Ergebnis, das am Ende Mutter und Tochter völlig fertig und tränenüberströmt waren. Kein gutes Gefühl. Dann hab ich aufgehört damit, mit dem Ergebnis, dass ich nun ein schlechtes Gewissen hatte, weil ich sie nicht genügend fördere, weil ich sie im Stich lasse. Auch kein gutes Gefühl.

"Lass Deine Gefühle zu", hat meine Freundin mir geraten. Das ist nicht leicht, wenn die Gefühle einen überrollen. Wenn man Tag für Tag zusehen muss, wie das eigene Kind von einem epileptischen Anfall in den nächsten rutscht, von einem Notfallmedikament ins andere kommt. Wenn man zusehen muss, wie das eigene Kind immer wieder unzufrieden ist, unruhig, nicht verstanden wird, obwohl es so intensiv versucht, sich zu äußern. Ich will das nicht. Ich will das alles nicht mehr. Ich will diese Hilflosigkeit nicht mehr. Ich will nicht zusehen müssen, wie sie immer und immer wieder etwas über sich ergehen lassen muss, was sie außer Rand und Band bringt. Es MUSS Alternativen geben. Ich kann die Situation nicht ändern und bereits gelernt habe ich, dass ich in solchen Momenten meinen Umgang mit der Situation ändern kann. Nichts sonst.

Schwer. Nahezu unmöglich, wenn man in so einer Situation gefangen ist, erschöpft, frustriert, ausgelaugt. Aber von völlig kaputt hab ich mich ja inzwischen aufgerappelt auf "ich steh wieder". Also von vorne. Gefühle zulassen. Ich bin hier ständig in Situationen, die ich meinem ärgsten Feind nicht wünschen möchte. Wir müssen hier als Eltern ständig Entscheidungen treffen, die existenziell werden können. Lebensentscheidend. Und da soll ich mich den Gefühlen komplett stellen. Ich hab verstanden, dass ich das muss, sonst bleib ich stecken im Hamsterrad.

Also von vorne. Was will ich? Wir sind uns als Eltern einig, dass die bestmögliche Lebensqualität für unsere Prinzessin das A und O sein muss. Wie kriegen wir die hin? Keine Ahnung. Vermutlich geht auch das nur indem wir Tag für Tag zusehen, was vielleicht gebraucht wird. Für mich bedeutet das inzwischen weniger und andere Physiotherapie. Ich mache nur noch das, was sie zulässt. Die Maus beweglich zu halten, damit sie keine Schmerzen durch Kontrakturen hat, ist jetzt mein Ziel. Mehr nicht. Körperpflege wird zur Not auch angepasst soweit es möglich ist. Wenn eincremen komplett unmöglich ist, lässt sie vielleicht die wichtigsten Teile zu. Reicht. Der Rest des Tages soll so gestaltet sein, dass sie maximalen Spaß haben kann. Fördern ist wichtig - solange sie es gut zulässt.

Ich bin ruhiger geworden und es geht mir etwas besser damit. Trotzdem ist es nach wie vor unerträglich, die vielen Anfälle miterleben zu müssen. Es nimmt mich mit. Etwas mehr Ruhe habe ich allerdings auch da. Wir haben vereinbart, nicht zwangsläufig in die Klinik zu fahren, auch wenn wir müssten. Überwachung der Atmung und eventuell weitere Intervention wären die Maßnahmen, die dort getroffen werden würden. In Teilen können wir das zu Hause auch. Das Palliativteam hat bestmögliche Unterstützung zugesagt. Möglichst wenig Aufregung und möglichst viel vertrautes Umfeld, das ist augenblicklich das Ziel.

Wir vertrauen darauf, dass unsere Maus einen Weg finden wird, uns zu zeigen, dass sie doch ins Krankenhaus fahren möchte, wenn es soweit ist und ich vertraue darauf, dass sie gut für sich selbst sorgt und uns immer zeigt, wohin die Reise gehen soll und wie lange sie reisen möchte. Das fühlt sich ein wenig nach Abschied auf Raten an. Seitdem ich mir das eingestehen konnte, ist es etwas leichter. Das klingt paradox, aber der Rat "Gefühle zulassen" war gut. Ich kann wieder kämpfen für meine Prinzessin, wofür, das gibt sie vor. Und zwischen den Gewittern hat sie ja Gott sei Dank auch entspannte Phasen, in denen sie den Eindruck vermittelt, es geht ihr ganz gut und sie fühlt sich wohl.


Das hilft, auch die Blitze zu ertragen und es kehrt ein wenig Frieden ein ins Fühlen.




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