Langsam wieder zu gebrauchen

Das Stehaufmännchen steht wieder. Noch nicht ganz aufrecht und noch auf etwas wackeligen Beinen, aber es steht.

Die letzten Wochen stellten eine große Herausforderung für mich dar und manchmal fühle ich mich noch wie ein rohes Ei, häufig jedoch schon wieder ein bissl hart gekocht.

Ganz unvorbereitet hatten mich vor einiger Zeit plötzlich Panikattacken überfallen. Unsere Prinzessin hatte wiederholt Phasen, in denen sie massiv gekrampft hat. Lange, schwere Anfälle, immer und immer wieder über den Tag verteilt, zum Teil in längeren Serien, haben ihr und allen, die das miterleben mussten, das Leben schwer gemacht.
Mich hat die Hilflosigkeit zunehmend mitgenommen und auch ihr Verhalten mir gegenüber, das geprägt war von viel Ablehnung und Gebrüll in den Zeiten außerhalb der Anfälle, hat mir sehr zugesetzt. Das auszuhalten war schon schwer, aber die Epilepsie hat mir den Rest gegeben. Auch nach über neun Jahren kann ich mich nicht daran gewöhnen, wenn die Situation mal wieder aus dem Ruder gerät und sich so massiv verschlechtert.

Meine Angst war, dass wir die Anfälle nicht mehr in den Griff bekommen, dass ich weiter hilflos zusehen muss, wie sie gebeutelt wird und teilweise selbst Panik in den Augen hat. Und ich hatte Angst davor, ganz alleine dazustehen, denn meine Panikattacken erstreckten sich auch auf den Gesundheitszustand meines Mannes, der mir zunehmend Sorgen bereitet hatte.

Und dann war es tatsächlich so. Mein Mann wurde mit dem Rettungswagen in die Klinik gebracht und ich stand zunächst wirklich alleine da. Zwar hatte ich noch einen Nachtdienst und am nächsten Tag eine Tagschwester, aber dann war erstmal Schluss mit Pflegeschwestern. Allein in der Nacht, genau das, was ich immer vermeiden wollte, weil ich Angst davor hatte, mit einer Situation nicht alleine klar zu kommen, das blühte mir jetzt. Aber es ging. Ich war am nächsten Tag geduscht, angezogen, unser Kind gut versorgt. Es ging irgendwie und gar nicht mal schlecht, was mich sehr verblüfft hat, denn wenn aus einem eingespielten Team, plötzlich ein Teamplayer komplett wegbricht, merkt man das bei jedem einzelnen Handgriff. Mutter und Tochter waren sauber, hatten beide genügend Flüssigkeit und Nahrung, im Haus herrschte kein Chaos, es war sogar vorgekocht und geplant, für den Urlaub zu packen und ins Allgäu zu kommen.
Fünf Tage nach dem letzten Rettungseinsatz, stand der Rettungswagen aber wieder vor der Tür. Wegen schwerer Anfälle musste ich  mit unserer Prinzessin ins Krankenhaus, vorbei die Aussicht auf Entlastung und Erholung. Ich musste also meinen schlimmsten Alptraum leben. Zum Glück hat mein Körper mich nicht im Stich gelassen und zum Glück konnte ich irgendwann einfach aufhören zu denken. Das half ungemein und tut es immer noch.

Inzwischen sind wir wieder alle zu Hause. Es ist noch lange nicht gut. Die Anfälle sind da, nach wie vor täglich und teilweise schwer. Vielleicht ist das unser neues Normal, an das ich mich gewöhnen muss, wir werden sehen. Mein Mann ist um ein wenig Innenleben leichter und um einige Erkenntnisse reicher und auf dem Wege der Besserung. Wie es mir geht, versuche ich nicht zu ergründen, ich versuche einfach weiter zu funktionieren, Schritt für Schritt und Tag für Tag. Das klappt erstaunlich gut, aber das habe ich nicht mir selber zu verdanken, sondern ganz vielen, die mir in den letzten Wochen geholfen haben und manche wissen vermutlich gar nichts davon, wie sehr sie das getan haben.

Dass es mir reichlich miserabel geht, haben einige bemerkt. Das waren manchmal auch Menschen, mit denen ich eigentlich gar nicht so viel zu tun habe, die mir im täglichen Leben nicht sonderlich nahe stehen oder mit denen ich nur virtuellen Kontakt habe, entweder überhaupt oder aktuell. Nichts desto trotz habe ich in den letzten Wochen eine Hilfsbereitschaft und eine Welle der Unterstützung erfahren, die mich wirklich überwältigt hat. Da war die Nachricht "ich schick Dir Sonne", "Du machst mir Sorgen", die ernst gemeinte Frage "wie geht es Dir heute?", "Ist heute besser?", bis hin zu "wie kann ich Dir helfen?", "was kann ich für Dich tun?".
Manchmal war es auch das konsequente Rumalbern, das Witzbild, das unaufgefordert kam und ohne eine Reaktion zu erwarten, es war die Möglichkeit, am Leben anderer teilzuhaben, das Gefühl zu haben, ich bin nicht allein. Auch in meiner größten Verzweiflung war ich das nicht: allein. Nie. Innerhalb kürzester Zeit hatte ich meine akuten Organisationsprobleme gelöst, die ich von einem Tag auf den anderen hatte, weil mein Mann ausfiel und eigentlich der Urlaub vor der Türe stand. Aber ich hatte nicht nur einen Plan, ich hatte sogar Plan B und eine Backup-Lösung für alles, falls irgendwas schief gehen würde. Dann musste wieder alles umgeworfen werden und auch da hatte ich wieder eine Lösung, einen Plan B und ein Backup. Schwindelerregend. Um manches musste ich mich gar nicht selbst kümmern, das fiel mir zu, wurde mir angetragen.

Es fällt mir sehr schwer, Hilfe anzunehmen. Aktiv um Hilfe zu bitten, ist etwas, das mir noch schwerer fällt, aber es blieb mir nichts anderes übrig, wenn ich nicht durchdrehen wollte, ich musste das tun. Ich musste es schnell auf die harte Tour lernen und wie leicht haben es mir alle gemacht!
Ich bin noch immer völlig geplättet über die Selbstverständlichkeit der Hilfsangebote. Ich durfte erfahren, dass ich in einer ganz wunderbaren Nachbarschaft lebe. Gefühlt hätte ich die Straße runter gehen und mindestens an jeder zweiten Tür läuten können, hätte ich Hilfe gebraucht. Unsere Straße ist nicht grad kurz! Vollkommen Selbstverständlich wurde mir Zeit geschenkt, stundenlang, um mich aus meiner Misere zu retten.
Freunde, Bekannte, mit denen ich gar nicht so häufig zu tun habe, haben sich als Unterstützung entpuppt, auch wenn sie manchmal "nur" moralischer Natur war. Aber genau das war es, was ich oft so dringend gebraucht habe. Ich musste mich nicht erklären, musste meine Lage nicht analysieren oder analysieren lassen, ein einfaches "es geht mir richtig bescheiden" hat gereicht. Punkt. Kein Seelenstriptease.
Unsere Pflegeschwestern haben mir erklärt "wir stehen hier als Team hinter Ihnen". Wow! In der größten Not sind mir Entscheidungen abgenommen und vollendete Tatsachen geschaffen worden. Ein wenig hab ich mich gefühlt, wie ein Duracell-Häschen, das vom rechten Weg abgekommen und auf die Nase gefallen ist. Mit vereinten Kräften ist es wieder aufgerichtet worden, angeschubst und jetzt läuft es wieder.

Das Stehaufmännchen hätte es nie aus eigener Kraft geschafft, sich wieder so aufzurappeln, aber dank all der Hilfe, ist es wieder aufrecht. Danke! Ich hoffe, es fühlen sich die Richtigen angesprochen. Danke von ganzem Herzen an alle, die an mich geglaubt haben, die mir immer wieder versichert haben "Du schaffst es". Nicht alleine hab ich es geschafft, aber ich hab verstanden, dass das auch nicht notwendig ist. Ich darf mir Hilfe holen. Und ich bekomme sie, wenn ich sie brauche. Dafür ist das Stehaufmännchen unendlich dankbar und wird stehen bleiben. Jeden Tag ein Stück stabiler, Schritt für Schritt. Versprochen!

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