Palliativversorgung zu Hause statt Krankenhaus?

Als unsere Tochter wegen einer Lungenentzündung lebensbedrohlich erkrankt war, hat mich einige Male die Frage erreicht, ob wir (inzwischen) nicht besser in der Klinik aufgehoben wären. Außerdem haben einige mitbekommen, dass wir mehr oder weniger regelmäßig Besuch vom Palliativteam bekommen haben (SAPPV = Spezialisierte, ambulante, pädiatrische Palliativversorgung) und wollten wissen, ob es denn schon "so weit" wäre. Diese Fragen haben mir gezeigt, dass viel Unwissenheit und Unsicherheit im Land verbreitet ist, daher möchte ich erzählen, warum wir so entschieden haben, wie wir entschieden haben und warum diese Entscheidung sich nach wie vor gut anfühlt.


Zunächst sollte ich vielleicht ein paar Worte zu unserer Ausgangssituation verlieren. Das ist vermutlich
für das Verständnis der Gesamtsituation wichtig. Unsere Tochter hatte leider schon häufiger in ihrem Leben Situationen, die mehr oder weniger schnell lebensbedrohlich wurden. Bislang waren wir bei diesen Gelegenheiten fast immer in der Klinik. Dreieinhalb Wochen Intensivstation waren - von der Zeit nach der Geburt abgesehen - das längste, was wir dort verbracht haben mit allem, was dazu gehört. Mindestens ein Elternteil war rund um die Uhr anwesend, wir waren Teil des Klinikalltags. Wir wissen, wie es sich anfühlt, kennen die Abläufe, wissen, wie es ist, Arbeit, Haushalt, Einkauf, Organisation um einen Klinikaufenthalt herum zu meistern. Und wir wissen, was Krankenhausaufenthalte seelisch mit uns Eltern und vor allem mit unserem Kind machen.

Unsere Tochter hat einen seltenen Gendefekt mit lebenslimitierender Prognose. Maximal drei Jahre Lebenserwartung sagt das Lehrbuch, sie ist zwölf. Da wir in diesen zwölf Jahren ihres Lebens schon so oft die Erfahrung machen mussten, dass sich ihr Zustand innerhalb weniger Stunden von normal über "komisch" zu "sehr krank" bis hin zu "kritisch" verändern kann, haben wir in den letzten Jahren häufig - auch auf Anraten unseres betreuenden Ärzteteams - beschlossen, dass wir uns über die Wintermonate vom SAPPV Team betreuen lassen. Das dient vor allem dem Vermeiden von Krankenhausaufenthalten, hat aber auch noch andere Vorteile. 

Nun erschrecken die meisten Menschen, wenn man erwähnt, dass die Tochter palliativ betreut wird, weil das für die meisten Menschen etwas finales beinhaltet. Aber eine SAPP Versorgung hat eben nicht nur die Betreuung in der finalen Phase zur Aufgabe, sondern hat einfach was Schmerzmedikation angeht, viel mehr Möglichkeiten, als ein niedergelassener Arzt üblicherweise vorschlagen würde. Viele Kinderärzte haben auch kaum Erfahrungen auf dem Gebiet und kennen sich nicht mit allen Medikamenten aus eigener Praxiserfahrung sehr gut aus. Anders bei einem SAPPV Team.

In einer Situation, die so lebensbedrohlich ist, wie sie das neulich bei unserer Tochter war, stellt allerdings auch ein SAPPV Team ganz klar die Frage "möchten Sie nicht lieber in die Klinik?" Wir haben diese Frage also durchaus diskutiert. An diesem Punkt muss ich unsere Ausgangssituation noch ein wenig weiter fassen. Im Laufe der letzten zwölf Jahre mussten wir nicht nur viel Erfahrungen sammeln was Erkrankungen und Krankheitsverläufe angeht, sondern sind auch bestens ausgestattet mit Equipment, das zum Teil üblicherweise nur auf einer ITS (Intensivstation) zu finden ist. Wir können unsere Tochter zu Hause mit flüssigem Sauerstoff versorgen, seit Mitte letzten Jahres sogar mit einem Highflowgerät. Für die Überwachung der epileptischen Anfälle haben wir einen Epicare, die Vitalwerte werden mit einem Monitor überwacht. Wir haben einen Ultraschallvernebler und einen Hustenassistenten fürs Schleimmanagement. Ich bin angeleitet in diverse manuelle Therapien, ich kann die Lunge abhören, wir kennen Zusammenhänge diverser Symptome und sind fit in der Verabreichung von Medikamenten. Unter diesen Umständen haben wir uns die Versorgung unserer Tochter zu Hause zugetraut. Wir haben alles, was eine ITS bietet, abgesehen von invasiver Beatmung und von einem Perfusor, das heißt wir können keine IV-Therapie machen, nur über den Gastrotube. Uns war zu jedem Zeitpunkt bewusst, dass es zu Hause auch schief gehen und sie versterben kann. Das kann uns aber auch leider jederzeit in der Klink passieren. Fakt.

Warum haben wir also entschieden, nicht in die Klinik zu gehen? Zum einen wegen der günstigen Voraussetzungen, die ich eben beschrieben habe. Vor allem aber, weil wir eben durch unser SAPPV Team bestens betreut sind. Der Umgang ist sehr offen. Wir dürfen alle Ängste ansprechen und alle Maßnahmen werden auf Augenhöhe besprochen. Wir haben keine Angst vor Medikamenten, die nicht ganz alltäglich sind. Dass wir neben einem Antibiotikum selbst ein hochdosiertes Cortison vorgeschlagen haben, resultiert aus unserer Erfahrung. Ein drittes Schmerzmittel schockt uns nicht und Morphin sehen wir nicht als "die haben unser Kind schon aufgegeben" sondern ganz im Gegenteil "es wird alles getan, damit sie möglichst wenig belastet ist". Wir sind sicher im Verabreichen und Planen der Medikamentengabe und unser SAPPV Team weiß das und traut uns das Handling zu. Wir wissen, dass das häusliche Umfeld viel dazu beiträgt, zusätzlichen Stress zu vermeiden und für die Genesung der Patienten dienlich ist.

Aber nicht nur für unsere Tochter ist die gewohnte Umgebung Gold wert, auch für uns Eltern. Zu Hause gelingt es tatsächlich zwischendurch unserer Erwerbsarbeit nachzugehen. Wir können jederzeit zwischendurch Wäsche waschen, einkaufen, genügend Kaffee in der richtigen Stärke zu jeder Zeit in uns hinein kippen, uns so gesund ernähren, wie wir das möchten, genügend trinken, jederzeit auf die Toilette gehen und wenn wir merken, wir brauchen JETZT eine Kochsalzlösung zum Zwischeninhalieren, müssen wir nicht klingeln, unseren Wunsch äußern und warten, bis die Pflegekraft Zeit hat, uns das Gewünschte zu bringen, sondern wir gehen zum Schrank, holen das NaCl und es geht los. Durchfälle bei Antibiose sind ganz normal. Zu Hause kann ich Morosuppe kochen - versucht das mal in der Klinik. Fehlanzeige. Brennesseltee, Thymiantee, Schonkost, Aufbaunahrung - all das ist in einer Klinik nicht so realisierbar wie zu Hause. Natürlich ist das nicht entscheidend, aber extrem hilfreich. Wenn es uns Eltern noch einigermaßen gut geht und wir ohne Krankenhauskoller die Zeit überstehen können, überträgt sich das auch auf unser Kind und es ist uns gemeinsam gelungen, die schwere Phase zu Hause zu überwinden. Den größten Anteil daran hatte allerdings unsere Tochter.

Um sie geht es in erster Linie. Zwölf Jahre. Das ist für Kinder mit einer Miller-Dieker-Lissenzephalie ein sehr passables Lebensalter. Es wird der Tag kommen, da wird sie es nicht mehr schaffen, wird keine Kraft mehr haben. Es gab auch in dieser Krise jetzt einen Punkt, an dem wir genau darüber gesprochen haben. Wie ist das konkret, wenn sie sterben wird. Erkennen wir das? Wie sieht das aus? Was passiert? Wie schnell müssen wir handeln? Was genau müssen wir tun? Die Supervision unseres SAPPV Teams muss großartig sein. All diese Fragen konnten in aller Ruhe ganz unaufgeregt geklärt werden ohne dass jemand in Tränen ausgebrochen ist. Es war ein sehr friedliches, schönes Gefühl. Ein Gefühl, ein wenig vorbereitet zu sein. 

Schließlich hat sich unsere Prinzessin dazu entschieden, noch bei uns zu bleiben. Dafür bin ich sehr dankbar. Ich bin aber auch froh, dass sie uns das zu Hause beweisen konnte. Wir haben keine Nadeln in ihren Körper gestochen und ihr keine Beatmung aufgezwungen. Wir können jetzt mit Fug und Recht behaupten, dass sie es aus eigener Kraft geschafft und entschieden hat. Sie hat - durch unser SAPPV Team - alle Hilfen bekommen, die irgendwie möglich waren. Wir haben alles ausgeschöpft, was sinnvoll und vertretbar war, um ihr so gut wie möglich Ängste und Schmerzen zu nehmen. Denn das ist Palliativversorgung. Es angenehm gestalten. Ich bin sehr dankbar, dass wir diesen Weg - auch immer wieder - gehen dürfen und dass es diese Möglichkeit gibt, zu Hause in den eigenen vier Wänden auch Krisen zu bewältigen. Das Team kam vorbei zum Hausbesuch bzw. als die Gesamtsituation wieder stabiler war, waren wir in täglichem, teilweise mehrfach telefonischem Kontakt. Wir waren nie allein, das war ganz wichtig zu wissen.

Abgesehen davon, hätte man uns in "unserer" Klinik diesmal leider gar nicht aufnehmen können. Die ITS war abgemeldet, auch die Normalstation. Personalmangel. Ob wir überhaupt in unserem Bundesland zu dem Zeitpunkt einen Platz bekommen hätten, war fraglich. Und damit war die Frage nach der Klinik für uns sowieso beantwortet: Niemals! Das Letzte, was eine ohnehin überlastete Klinik im Jahr 2023 braucht, ist ein Kind mit Pflegegrad 5, das auch noch jede Menge Besonderheiten mitbringt, oft paradoxe Reaktionen hat und forsche Eltern. Nein. Das mag man auch keiner Klinik zumuten. 
Das ist der Grund, warum wir zu Hause geblieben sind, warum wir vom Palliativteam betreut worden sind und warum das für uns wirklich schön und stimmig war. Jederzeit würde ich wieder so entscheiden. Es würde mich sehr freuen, wenn ich auch anderen Eltern ein wenig Angst vor der Palliativversorgung nehmen konnte. Wer bislang noch nichts von dieser Möglichkeit wusste und unsicher ist, ob es für die eigene Familie in Frage kommt, darf mich natürlich jederzeit gerne kontaktieren.

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