#talkaboutmytrauma - der Aufruf klang so einfach, doch er ist traumatisch

Wer bei Instagram angemeldet ist, kennt vermutlich @simonerouchi . Sie ist eine der Initiatorinnen der Petition #mehrals28Tage und ist aktuell mal wieder viel zu lange mit ihrem Drachenkind in der Klinik. Was sie erlebt, traumatisiert sie und ihr Kind nachhaltig und sie hat auch andere Eltern dazu aufgerufen unter #talkaboutmytrauma von ihren traumatischen Erfahrungen zu berichten, die sie als pflegende Eltern machen und gemacht haben.
"Da kann ich locker etwas beitragen" dachte ich spontan. Aber als ich dann angefangen habe und wieder von vorne begonnen und mich richtig intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt habe, musste ich feststellen und mir eingestehen, dass mein Trauma viel weiter reicht, als mir lieb ist. Das eine Trauma gibt es eigentlich gar nicht, im Grunde ist meine ganze Mutterschaft ein einziges Trauma und genau darin liegt schon die Krux. Ich bin gar nicht die Mutter, die ich sein möchte, ich bin keine Mutter im klassischen Sinn und DAS ist mein eigentliches Trauma, das ich sehr erfolgreich weitgehend verdränge.


Meine erste Schwangerschaft endete mit einer Ausschabung in der 10. Woche. Stolz wollte ich zum ersten Mal meinem Mann das schlagende Herzchen im Ultraschall zeigen. Statt dessen betretenes Schweigen der Gynäkologin. Nein, mein Körper hat nicht begriffen, dass die Schwangerschaft keinen Bestand mehr hat, ich brauchte eine OP. Man hat mir die Reste meines Kindes auf entwürdigende Weise herausgeschnitten. Es ging einiges schief bei diesem Eingriff. Nach nur einer Woche habe ich wieder ganz normal weiter gearbeitet. Einige Stunden Trauerbegleitung, einen Besuch bei der Krankenhausseelsorgerin und eine Gemeinschaftsbestattung später, stelle ich viel zu früh fest, dass ich erneut schwanger bin. In dieser zweiten Schwangerschaft gibt es keinen wirklich völlig unbeschwerten Moment. Ich müsste mich konzentrieren, um die Anzahl und die Abfolge aller Prognosen und Diagnosen korrekt wiederzugeben, die so schnell aufeinander folgten, dass ich keine davon wirklich verarbeiten konnte. Wider Erwarten überlebt mein Kind die Geburt und begleitet uns nach nur drei Wochen Klinikaufenthalt nach Hause. "Wenn es nicht geht, bringen Sie sie halt wieder zu uns" werden wir verabschiedet.

Es ist ein Kampf. Alles. Die Tage, die Nächte, das Stillen, die Spaziergänge, die Autofahrten und oh, diese ganzen Verpflichtungen. "Sie müssen unbedingt...", "Auf jeden Fall sollten Sie..." also organisiere ich Termine, recherchiere, pumpe ab. Ich hab keine Zeit, zu Hause anzukommen, ich hab keine Zeit eine Einheit mit meinem Kind zu werden, ich muss organisieren, für sie sorgen, die besten Voraussetzungen schaffen und einen Hausbau begleiten und den Umzug vorbereiten. Immerhin schaffen wir es über die Jahre von "Sie müssen dringend noch..." zu "Sie sind die Experten für Ihr Kind."

Das erste halbe Jahr vergeht ohne meine größte Angst: Die Epilepsie. Nur zehn Tage später schlägt sie zu. Gnadenlos. Und zieht mir den Boden unter den Füßen weg. Beim zweiten Krankenhausaufenthalt innerhalb kurzer Zeit beginne ich schon darüber nachzudenken, ob das jetzt mein neues Leben sein wird. Aufenthalte in der Klinik. Und am Tag vor der erneuten Entlassung kommt der nächste Schock, die unbedachte Aussage einer Ärztin, die mir erklärt "Sie wissen doch wohl, dass Ihr Kind jederzeit im Anfall versterben kann?" Nein. Wusste ich nicht. Wird mir so auch nicht unbedingt bestätigt, aber der Satz sitzt tief. Wie so ein Schachtelteufel, der immer aus der Box schießt, wenn das Stichwort kommt: "Anfall!" Und davon hat sie viele. 

Eineinhalb Jahre lang, alle vier bis sechs Wochen brüllt sie drei Tage und drei Nächte durch. Niemand kann mir sagen warum. Ich darf sie nicht halten, sie nicht berühren, ich bin als Mutter nicht gefragt. Das letzte Stück gefühlte Mutterschaft schwindet. Ich halte aus und versorge. Mit elf Monaten kommt das nächste Gespenst: Das West-Syndrom mit bis zu zehn Anfällen in 24 Stunden, jeder bis zu 20 Minuten lang. Unser Umgang mit der Epilepsie verändert sich zwangsläufig. Ich stumpfe ab, ich muss den Schmerz mit Ignoranz betäuben.

Mit knapp zwei Jahren gestehe ich mein "Versagen" ein, das natürlich keines ist. Eine PEG-Anlage ist erforderlich, um ihre Lebensqualität zu sichern. Wir sind wieder zwei Krankenhausaufenthalte weiter und die PEG wird angelegt. Mein schlimmster Alptraum - Moment, dabei dachte ich, den hatte ich ja schon durchlebt. Ich erkenne, dass es immer noch schlimmer geht. Bei der OP läuft es nicht ganz so rund wie gewünscht und zum ersten Mal ist nicht klar, ob das der Anfang vom Ende sein könnte. "Genießen Sie einfach jeden Tag, den Sie mit ihr haben" rät mir der Neurologe. Es fällt ihm schwer, zu sprechen, ich flehe meine Tochter an, jetzt noch nicht zu gehen, weil ich sie noch brauche. Was rede ich da? Das ist doch nicht ihr Problem.

Ich lerne zu sondieren, ich lerne abzusaugen, den Monitor korrekt zu verkabeln und zu bedienen, den Sauerstofftank zu organisieren und noch viel mehr, von dem ich nicht dachte, dass es jemals zu einer Mutterschaft gehören könnte. Ich erziehe nicht, ich konditioniere. Ich hab ganz wenige, innige Kuschelmomente, in denen wir unsere Zweisamkeit genießen können, statt dessen bin ich die brutale Mutter, die regelmäßig turnt, therapiert, Gesundheit erhält. Morgens fröhlich angestrahlt zu werden, bleibt ein Wunschtraum, angebrüllt zu sein, die Realität. Warum das so ist, dass der Autismus eine Rolle spielen mag, erarbeite ich mir sehr spät selbst.

Privatsphäre gibt es nur noch selten in unserem Leben. Abhängigkeit auf vielen Ebenen, in vielen Facetten bestimmt unser Leben. Wir brauchen Hilfen und zugleich sehne ich mich so sehr danach, auch ab und an alleine zu sein. Für mich. Keine Übergaben, nicht auf die Uhr schauen, nicht planen. Einfach sein.

Lungenentzündungen enden im Krankenhaus. Wir kommen nach Hause, wir landen wieder im  Krankenhaus, mindestens ein bis zwei Mal im Jahr, immer und immer wieder. Weihnachten 2016 stirbt sie fast in meinen Armen. Status epilepticus mit einer Herzfrequenz von dauerhaft über 200 bis 220. Das Herz hält durch. Sie hält durch, sieht den Papa endlich und überlebt. Tagelang ist sie ausgeknockt, aber sie kommt mit uns nach Hause. Dreieinhalb Wochen Intensivstation haben Spuren hinterlassen. Inzwischen bin ich nach jedem Krankenhausaufenthalt ein wenig schwerer, meine Haut ein wenig schlechter und eigentlich sind wir danach immer krank, wenn wir nach Hause kommen. Wir werden bei diesem Aufenthalt direkt von der Intensivstation entlassen. Wegen der RSV Viren auf Normalstation. Es ist nicht klar, ob sie jemals vom Sauerstoff wegkommen und normal in die Schule gehen wird. Aber sie wird. Und wir pflegen weiter, krank und versuchen zu genesen und zu versorgen. Die Gleichzeitigkeit.

Es gibt weitere Male, in denen es knapp ist, in denen nicht klar ist, ob sie überleben wird. Es geht schnell bei ihr, innerhalb von wenigen Stunden, manchmal entscheiden Minuten ob wir rechtzeitig handeln können oder ob es schon kritisch ist. Irgendwann entscheiden wir, dass wir nicht mehr ins Krankenhaus gehen, sondern uns zu Hause vom Palliativteam begleiten lassen. Es fühlt sich stimmig an. Friedlich.

Jede Krise löst auch bei uns Eltern eine Krise aus, meist körperlich dazu, weil wir uns anstecken, nicht ganz genesen, verschleppen. Wieder hab ich einen schlimmen Albtraum, fürchte, mein Mann könnte krank werden und ich noch mehr alleine übernehmen, dabei hab ich das Gefühl, gar nicht mehr zu können. "Drei Jahre wird sie alt", haben sie gesagt. Möglicherweise hat mein Unterbewusstsein sowas ähnliches wie "drei, vier Jahre schaffe ich locker!" gedacht und wurde danach erst stur und hat versucht einfach immer weiter durchzuhalten. Ich musste auch durchhalten, hatte nie Zeit zu verschnaufen. Erkrankungen auskurieren: Fehlanzeige. Nach Hause kommen bedeutet Rechnungen, Wäsche, Anträge, einkaufen, kochen, putzen und von vorne. Ob ich die Rechnung nicht ausnahmsweise auch mal früher überweisen könnte? Nein, konnte ich nicht. Ich war auf der Intensivstation mit meinem todkranken Kind. Die Rechnung wird termingerecht überwiesen. Ich war zuverlässig, hab vorgeplant.

An einem Punkt bin ich dann doch mental und physisch am Ende. Wer mich kennt, weiß, dass es mir sehr schwer fällt, Hilfe zu akzeptieren. Um Hilfe zu bitten setzt dem noch eins drauf. Ich bin an diesem Punkt, gestehe "ich kann, ich will nicht mehr und ich hab völlig den Überblick verloren." "Ach, das glaub ich nicht. Sie machen doch noch so viel" sagt mir jemand aus dem Bereich der Seelsorge mitten ins Gesicht. Ich verstumme. Für lange Zeit. Dieser Satz, gefühlt ein Schlag in die Magengrube, vermittelt mir: Meine Gefühle sind nicht valide, ich spreche nicht die Wahrheit, mein Empfinden ist falsch, ich bin falsch. Gehen Sie doch mal drei Wochen auf Kur. Super Idee und wer versorgt mein Kind? Soll mein Mann das alleine stemmen, der selbst am Ende ist?

Also funktioniere ich weiter. Mehr ist nicht von mir geblieben. Wenige Momente, in denen ich ein Muttersein spüre, viel häufiger bin ich alles andere. Meine Existenz ist wichtig, mein Funktionieren, alle Eigenschaften, die gut und wichtig sind, die Gesundheit und das Leben meiner Tochter bestmöglich zu erhalten und sicherzustellen. Dabei liebe ich sie aus ganzem Herzen, mit jeder Faser meines Körpers.

Mit dem Rettungswagen wird mein Mann in die Klinik gebracht. Fünf Tage später bringt der Rettungswagen mich und mein Kind in eine Klinik in der entgegengesetzten Richtung. Der Urlaub, der nur einen Tag später hätte beginnen sollen, fällt in diesem Jahr ganz aus. Corona-Zeit, das setzt dem Ganzen die Krone auf. Ich funktioniere und stelle fest: Das ist noch schlimmer als mein schlimmster Albtraum. Aber auch das überstehe ich. Taub inzwischen und weitgehend gefühlskalt. Meine Gefühle sind ja falsch. Ich weine so gut wie nie, nur wenn Kinder sterben, dann packt es mich.

Es sterben viele Kinder aus meinem Umfeld. Kinder, die ich persönlich kannte, Kinder, deren Familien ich über das Internet kennengelernt habe. Es wird normal. Andere Eltern drücken sich gegenseitig die Daumen, dass das Kind den Führerschein besteht, einen Studienplatz bekommt und einen guten Abi-Abschluss. Ich drücke Daumen, dass Kinder gut aus dem MRT aufwachen, dass die Befunde harmlos sind und lasse Luftballons steigen, wenn sie verstorben sind. Der Tod und Klinikaufenthalte anderer Familien gehören so selbstverständlich zu meinem Leben wie Diskobesuche für andere Mütter. Auch das macht etwas mit mir und meinem eigenen Trauma. Ich bleibe stumm. In den Momenten geht es den anderen schließlich immer so viel schlechter als mir. Meine Gefühle sind nicht so wichtig, sind nicht valide, das hab ich ja gelernt.

Fast vierzehn Jahre pflege ich jetzt. Schon mit wenigen Monaten wurde meiner Tochter eine Pflegestufe zuerkannt. Wer das Prozedere kennt, weiß, was das bedeutet, das kriegt man nicht einfach so. Fast vierzehn Jahre, in denen ich nie Zeit hatte anzukommen, eine echte Pause zu machen von mehreren Tagen und zu heilen. Ich bin von einer zaghaften Mutter zu einer funktionierenden Versorgerin mutiert. Ich weiß, dass es niemals besser werden wird. Progrediente Erkrankung bedeutet Rückschritte. Es bedeutet, dass ich eines Tages vor dem Grab meines eigenen Kindes stehen und vielleicht auch für sie einen Luftballon in den Himmel schicken werde. Damit setze ich mich seit ihrer Geburt auseinander. Bis es soweit ist, mach ich einfach weiter. Ich organisiere, ich funktioniere, ich bin resilient genug um das durchzustehen. Ich bin tapfer, oft auch heiter und fröhlich. Manchmal bahnen sich die Tränen ihren Weg, aber nicht lang. Meine Gefühle sind nicht valide und da ich keine echte Mutter bin, haben sie so auch gar keine Berechtigung. 51 Jahre bin ich nun alt und ich spüre dieses Alter. Meine Gesundheit ist nicht mehr so stabil, ich bin nicht mehr so belastbar. Auch wenn ich das laut und offen zugebe, mitteile, dass ich nicht mehr mehrere Tage in Folge die Nachtdienste selbst übernehmen kann, es nutzt nichts. Personalmangel. Ich versteh das doch. 
Nein, ich möchte das nicht verstehen, weil mich offenbar auch nicht jeder verstehen möchte oder aber es nicht ganz so wichtig ist, dass auch unsere Bedürfnisse gesehen und gedeckt werden. "Sie machen doch noch so viel..." Ja, weil ich aufgehört habe zu denken und zu fühlen, wenn es gar nicht mehr auszuhalten ist.

Vor dem Tag X, an dem mein Kind nicht mehr lebt, hatte ich lange Zeit Angst. Die Angst, dass ich hinterher in ein schwarzes Loch fallen könnte, war so groß, dass ich verzweifelt einen Ausweg gesucht habe. Die Ernährung verbindet uns. Nie im Leben wäre ich Ernährungsberaterin geworden, wäre da nicht meine Tochter. Ein erstaunliches Kind, dessen Existenz mein Trauma auslöst, das gleichzeitig dafür sorgt, dass ich mich für immer mit ihr verbunden fühle. Vielleicht in der Fortsetzung meines Traumas, vielleicht in einem neuen, vielleicht werde ich irgendwann auch heilen. Mutterliebe kann ja viel und wenngleich ich keine richtige Mutter bin, so fühle ich für sie wie eine. Immer. Für mein Kind.

#talkaboutmytrauma

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