Wenn das Sterben zum Leben gehört

Seit dreizehn Jahren bin ich Mutter. Eigentlich bin ich genau so lange auch pflegende Mutter. Mutter eines Kindes mit lebenslimitierender Diagnose. Unsere Hummel wird sterben. Vermutlich vor uns. Wann, wissen wir nicht, die ursprüngliche Prognose sah zwei bis drei Jahre vor. Sie ist zehn Jahre über der Zeit. 

Fordernd waren sie, die dreizehn Jahre, herausfordernd. Mutter bin ich nur selten. Meist bin ich alles mögliche, das hab ich schon thematisiert. Von Absaugprofi bis zu Zähneknirschertragerin ist alles dabei, dazwischen Pflegekraft, diverse Therapeuten in Personalunion, Sekretärin, Taxifahrerin, Managerin. Nur Mutter bin ich selten. Ich bin froh, dass unsere Hummel noch bei uns ist, aber ich bin müde, so endlos müde. Ich sehe kleine Fortschritte in ihrer Interaktion, sie wächst, sie nimmt zu, sie entwickelt sich, pubertiert. Ich sehe aber auch die kleinen Rückschritte ihres Körpers. Ich nehme die zunehmende Steifheit wahr, die krummer werdende Wirbelsäule, den schiefer werdenden Fuß, die zunehmende Spannung im Kiefer, das immer schlechter funktionierende Schlucken, die immer angestrengtere Atmung. Ich erkenne, dass wir mit jedem auftretenden Problem aufmerksamer sein müssen, schneller reagieren müssen. Ich sehe, dass die Krisen in kürzeren Abständen auftreten und rascher kritisch werden. Wir sind vorbereitet, wir sind gerüstet und wir sind inzwischen gut.

Unser Kind wird häufig als Problem wahrgenommen, so wird es mir jedenfalls vermittelt. Das Husten, das Sekretproblem, das Spucken, das Meckern, all das wird thematisiert. Mein Kind ist palliativ betreut, schon längere Zeit. Mein Kind kann nur mit der Pflegekraft eines Kinderintensivpflegedienstes zur Schule gehen bzw. fahren, rollen, naja, halt die Schule besuchen. Natürlich hat sie Probleme, die gehören zu ihr. Für mich definieren sie meine Tochter nicht, sie sind quasi Zubehör und ja, es wird immer ein wenig schlechter und einiges Tages wird es ganz schnell ganz schlecht sein.

Wir sind irgendwie vorbereitet, wir haben auch den Tag X bereits besprochen, an dem sie vom Hier ins Jenseits wechseln wird. Auch da fand eine gewisse Vorbereitung statt, aber mal ehrlich - auf den Tod des eigenen Kindes kann man sich nicht vorbereiten. Das haut einen immer um, egal wie lange im voraus man weiß, dass es so kommen wird. Woher ich das wissen will? Weil ich es erlebe. Leider immer und immer wieder. Kinder sterben. Sie sterben immer wieder in meinem Umfeld und ja, das macht etwas mit mir. Nein, ich kenne nicht alle Kinder persönlich, bei denen ich erlebt habe, wie ihre Familien sich verabschieden mussten. Es sind Kinder verstorben, die wir während unserer Urlaube im Hospiz kennengelernt haben, Kinder aus der Einrichtung unserer Hummel. Kinder, die wir flüchtig kannten, Kinder, zu denen wir persönlichen, emotional engen Kontakt hatten oder wenigstens zu deren Müttern. Es sind aber auch Kinder aus Gruppen der sozialen Netzwerke, die man halt von Bildern kannte, die am anderen Ende des Landes oder am anderen Ende der Welt leben. Naiv wie ich manchmal bin, dachte ich, dass ich mich irgendwann daran gewöhnen werde an das Sterben. Pflegekräfte, Ärzte, Hospizhelfer können das ja auch, das Sterben einfach zu akzeptieren und sich gewöhnen ohne jedes Mal daran zu zerbrechen. Auch wenn es um Kinder geht. Aber ich schaffe es nicht. Es nimmt mich immer wieder richtig mit. Jedes Mal. Und jedes Mal wird mir schmerzlich bewusst, dass wir die nächsten sein könnten, die sich für immer verabschieden müssen.

Meinen Kummer kann ich nie ausleben, weil ich ja pflege. Mein Kind braucht sehr viel Aufmerksamkeit und sehr viel Fingerspitzengefühl, um marginale Änderungen schon in der Entstehung abzufangen. Während ich den Tod des einen Kindes betrauere, organisiere ich die neue Sitzschale für meine Tochter. Dabei hoffe ich jedes Mal, dass sie die Fertigstellung noch erleben wird. Hilfsmittel dauern nämlich. Lange. Und irgendwie auch immer länger. Und wir haben viele Hilfsmittel, also viele Anträge und viel warten. Ich leide körperlich, wenn ich stundenlanges Zähneknirschen ertragen muss und immer dieses Schleimgeräusch im Ohr habe. 

Ich mache Pläne. Für mich und meinen Beruf, für uns als Familie, für mein Kind. Auch wenn es nur Arzttermine sind, Therapietermine, Vorsorgeuntersuchungen, ich plane. Dabei kann ich nie sicher sein, ob ich in ein, zwei Monaten, wenn der Termin stattfinden wird, nicht gerade eine Krise erlebe, ob mein Kind dann noch ist. Aber jetzt, jetzt hab ich mein Kind noch. Andere Mütter sind verwaist. Ich sollte dankbarer sein. Und dann ist das schlechte Gewissen da, weil ich doch trotzdem leide, aber nicht sollte. Die dauernde Gleichzeitigkeit so vieler Aspekte macht mürbe. Auch das bedeutet immer wieder ein wenig Abschied. Trauer auf Etappen, quasi gestundet. 

Diese Gleichzeitigkeit von froh sein über das, was ist bis hin zur Dankbarkeit für einen wirklich schönen Moment über den Schmerz, der sich nahezu zeitgleich einstellt, wenn sich Minuten später ein Problem ankündigt, wenn eine Absage ins Haus flattert, ein weiteres Dokument eingereicht werden muss. eine Hoffnung stirbt, weil eine Idee verpufft, diese Gleichzeitigkeit ist absurd und doch so normal und präsent in meinem Leben.

Wie können Menschen gleichzeitig leben und immer wieder das Sterben vor Augen haben, das Sterben anderer Kinder, das sie so sehr an das kommende Ende des eigenen Kindes erinnert? Ein paar Jahre lang konnte ich dieses Ende recht erfolgreich verdrängen für Tage, Wochen, gar Monate. Inzwischen ist es damit vorbei. Jede Episode, in der die Hummel aus Leibeskräften brüllt, sich wehrt, weil ich wasche, creme, anziehe, was auch immer, ist wie ein Tritt in die Magengrube. Werden es Situationen wie diese sein, an die ich mich erinnern werde, wenn sie nicht mehr ist? Ich erlebe bei vielen Familien, dass sie möglichst viele schöne Erinnerungen schaffen, bevor es zu Ende geht. Da sind Ausflüge beispielsweise, besondere Aktionen. Und ich? Nichts davon. Entweder bin ich zu erschöpft, es fehlt die Zeit oder die Hummel ist gar nicht wach oder stabil genug, um irgendetwas Besonderes zu planen. Werde ich bereuen, nicht um jeden Preis etwas Außergewöhnliches mit ihr erlebt zu haben? Ins Kino? In einen Freizeitpark? Ans Meer? Oder werde ich auch später der Meinung sein, dass es einfach nicht ging. Dass es Wunschdenken aus der Werbung ist, wie eine glückliche Familie, eine unbeschwerte Mutter auszusehen und zu agieren hat?

Die Antworten auf diese Fragen werde ich eines Tages geben können. Wenn es vorbei ist. Wenn es zu spät ist.
Vor Weihnachten ist ein Kind verstorben, zu dem ich eine direkte Verbindung hatte, vor ein paar Tagen ein Kind, dessen Mutter ich auf Instagram folge. Ein drittes Kind mit der Diagnose meiner Tochter liegt derzeit schwerkrank am anderen Ende der Welt im Krankenhaus und kämpft. Sie sieht meiner Hummel sehr ähnlich, was es zusätzlich schwer macht. Das Sterben eines Kindes ist nie mit dem Tod eines Menschen zu vergleichen, der am Ende eines langen Lebens verstirbt. Auch wenn das Leben vieler Kinder, deren Sterben ich erlebt habe, erleben werde, schwer ist und war, geprägt von Krankheiten, Einschränkungen, Beeinträchtigungen, Schmerzen, so fühlt es sich nicht natürlich an, wenn ein Kind seine Eltern nicht überlebt. 

Wir leben in einer Welt, in der es mit der Empathie oft ein wenig hakt. Verstehen, dass Eltern wie wir nicht immer froh und heiter sind, Probleme anderer, die nicht lebensbedrohlich sind, nicht immer wortreich bedauern, fällt vielen Menschen schwer. Habt einfach Nachsicht mit uns, wenn wir mal wieder nicht so unbeschwert und redefreudig sind, wie Ihr Euch das wünscht oder von unseren guten Tagen von uns kennt. Wenn Ihr eigene Kinder habt, Kinder, deren Lebenserwartung ganz normal ist, dann stellt Euch einfach vor, dass wie ein Schattenzwilling Eures Kindes immer der Tod mitläuft. Stellt es Euch 24 Stunden vor und seht, was es mit Euch macht. Mich erschöpft es und es macht mich mürbe und jedes mal wieder unfassbar traurig, dass das Sterben täglich zu unserem Leben gehört. Dennoch machen wir Eltern weiter, jeden Tag. Wir machen weiter mit diesem Leben.

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