Ich bin genug

Viele pflegende Mütter haben genau wie ich dauernd ein schlechtes Gewissen ihren Kindern gegenüber. "Ich bin nicht genug" denke ich seit 13 Jahren. Und ich fühle mich bestätigt, wenn ich verfolge, wie sich andere Mütter ein Bein für ihre Kinder ausreißen. Da wird therapiert, wochenlange Reha-Aufenthalte geplant und durchgezogen und täglich zu Hause geübt. Stundenlang. Und ich? Ich bin inzwischen meist so müde, dass ich mich nachmittags mit Kind auf dem Bauch einfach nur auf unseren elektrisch klappbaren Sessel lege und zusammen mit ihr einschlafe.


Was könnte ich in der Zeit alles Sinnvolles tun! Atemtherapie, Logopädie, Ergotherapie - ach, da gäbe es so viel, was regelmäßig geübt werden müsste. Genau dieses Hadern habe ich neulich jemandem berichtet. Ein sehr erstaunter Blick hat mich getroffen. "Aber vielleicht ist dieses mit der Mama kuscheln und eine Runde gemeinsam schlafen genau das, was Ihre Katharina in den Momenten gerade braucht. Oder ist sie dabei unzufrieden?" wurde ich gefragt.
Hm, naja, unzufrieden ist sie in den letzten Monaten schon. Oft. Meistens. Aber wenn wir am Nachmittag so vor uns hindösen, meist nicht, nein. Aber ich könnte ja trotzdem mehr... Und andere Mütter machen ja durchaus auch. 

Der Einwand meines Mannes, dass es völlig unrealistisch sei, einen wochenlangen Reha-Aufenthalt zu organisieren und vermutlich bei der kurzen Aufmerksamkeitsspanne und dem wackeligen Gesundheitszustand unseres palliativ versorgten Kindes auch nicht sonderlich zielführend, wische ich weg. Wie viel mehr könnte sie wohl können, wenn ich mich einfach nur noch mehr zurücknehmen würde und noch mehr Zeit in ihre Therapien investieren würde? überlege ich laut. Würde sie das überhaupt tolerieren? Was, wenn sie - wie so oft zu Hause auch - einfach stundenlang schlafen würde? Wäre der ganze Aufwand überhaupt gerechtfertigt? Aber eigentlich müsste man doch noch mehr ...

Es stimmt ja auch. Unsere Tochter bräuchte Logopädie, Ergotherapie, mehr Physiotherapie, vor allem Atemtherapie und viel mehr Übung bei unterstützter Kommunikation. Aber das ist eigentlich nicht mein Problem. Ich bin nicht das Problem, dass meiner Tochter all das fehlt. Es liegt am System. Es liegt am Personalmangel, am Mangel an Therapeuten und ein wenig auch daran, dass die Beihilfevorschriften Bayerischer Beamter leider dazu führen, dass ich sehr häufig sehr viel zuzahlen müsste, was ich mir nicht leisten kann, wenn ich dann nach über einem Jahr (nein, kein Witz!) endlich Therapeuten finde, die Vakanzen haben. Es ist ja eigentlich nicht meine Aufgabe als Mutter, all diese Personen zu ersetzen und zusätzlich noch mein Kind zu pflegen. Die Pflegestunden, die uns eigentlich bewilligt wurden und zustehen, standen in manchen Monaten in keinem Verhältnis mehr zu den Stunden, die abgedeckt werden konnten. Kein Wunder, dass ich ständig müde bin.

Nach meiner ersten Corona-Infektion wurde mir langsam bewusst, dass es leider nicht mehr funktioniert, weiter Raubbau an meinem Körper zu betreiben wie in den zwölf Jahren davor. Ich habe begonnen, vernüftig zu werden, mehr für mich zu tun, sofern das möglich war. Aber der berühmte Personalmangel. Ich war auf einem wirklich guten Weg, da kam die zweite Corona-Infektion und irgendwie scheint jetzt die Sache ein wenig aus dem Ruder zu laufen. An Silvester gipfelte das in einem unfreiwilligen Tripp in die Notaufnahme via RTW. So hatte ich mir den Jahreswechsel nicht vorgestellt. 

"Schonen, soweit das möglich ist, Sport erst, wenn der Blutdruck wieder normal ist", sagt der Kardiologe bei der Kontrolle. Es fühlt sich nicht gut an, als pflegende Mutter nicht Vollgas geben zu können, aber es nutzt nichts. Also schalte ich noch ein paar Gänge runter und mache eben, was geht. 

Ein Buch vorlesen zum Beispiel, das krieg ich, dicht auf unserem Sessel aneinander gekuschelt, locker hin. Solange bis wir einschlafen. Mal wieder. Ganz friedlich und gemütlich fühlt sich das an. Meine Hummel kuschelt sich ganz eng an mich, als es ihr zu viel wird, hebt sie den Kopf, das ist Physiotherapie vom Feinsten: Unterarmstütz und Kopf drehen. Super macht sie das, ich bin stolz. 
Da wird mir bewusst, es ist richtig. Vielleicht ist es genau das, was sie gerade braucht und ich muss gar nicht mehr machen. Ein wenig Abklopfen geht ja im Liegen ganz wunderbar und auch eine kleine Massage ist eine brauchbare Atemtherapie. Vielleicht reicht das. Vielleicht ist das genug. Vielleicht bin ich genug. Das ist das erste Mal in 13 Jahren, dass ich diesen Gedanken zulasse. Lange denke ich darüber nach und bin am Ende ganz fein mit diesem Gefühl: Ja, ich bin genug!

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