Eigentlich bin ich ganz anders. War ich jedenfalls mal.

"Mich nervt das so", "Schon wieder fällt ein Dienst aus", "Der Termin war wieder völlig für die Affen!" solche und ähnliche Aussprüche gibt es von mir in letzter Zeit häufig. Auch Posts auf meinen Social Media Kanälen sind häufig kritisch, frustriert, anklagend und machen ständig aufmerksam auf alle möglichen Missstände, die ich sehe. Ich geh mir häufig mit diesem ständigen Klagen und dieser Negativität selbst ganz gewaltig auf den Senkel. Denn eigentlich bin ich gar nicht so. Eigentlich bin ich ganz anders. War ich jedenfalls mal. Früher. Als ich noch nicht pflegende Mutter war.


Zugegeben, ich kann es schon noch, ein wenig albern sein. Gut, dass mein Mann so geistesgegenwärtig war, im Urlaub auch von "albern" ein Bild zu machen. Vielleicht würde ich es sonst verdrängen, wie ich eigentlich bin. Wie ich mal war. Wie ich sein könnte.

Meist bin ich aber inzwischen anders und zwar so häufig und in so einem Ausmaß, dass es mir selbst auf die Nerven geht. Oft denke ich allerdings, es macht doch gar keinen Sinn, immer und immer wieder die gleichen Themen kritisch zu beleuchten. Es macht keinen Sinn, immer wieder die gleichen Missstände anzuprangern, zu erzählen, was verletzt, was uns pflegende Eltern belastet, welche Steine uns in den Weg gelegt werden. Ich denke, so oft habe ich schon erwähnt, wie groß die Hürden der Bürokratie sind, wie viel wir selbst zuzahlen müssen, wie wenig Unterstützung wir in manchen Bereichen erleben. Wie rückständig Inklusion in unserem Lande ist, wie wenig Akzeptanz vorhanden ist für das Anderssein.

Es macht ja keinen Sinn, denke ich und dann bin ich still. Ich war schon wochenlang still, habe keine kritischen Beiträge verfasst, weil ich denke, ich geh anderen genau so auf den Senkel und es ist besser und harmonischer, wenn ich das einfach unter den Tisch fallen lasse. 

Außerdem will doch niemand hören, dass ich die Pflege meines Kindes oft als herausfordernd und belastend empfinde. Wenn sie stundenlang brüllt ohne dass wir einen Grund erkennen können, wenn ich mich wie eine Versagerin fühle, weil ich meinem Kind nicht helfen kann. Es gehört sich nicht zu sagen, dass es schmerzt, wenn sie tritt und schlägt, schließlich ist sie ja so behindert. Sie weiß ja gar nicht was sie tut und sie macht es ja nicht absichtlich. Nein, vermutlich nicht, aber es tut mir trotzdem weh. Natürlich genieße ich, wenn sie sich halten lässt. Ich schätze es sehr, wenn sie auf mir ruht, wenn ich kuscheln darf mit ihr. Nicht viele zwölfjährige Mädchen tolerieren so viel Nähe. Aber genauso wenig werden andere Mütter von zwölfjährigen Mädchen so regelmäßig getreten und gekratzt und stundenlang angebrüllt. Sie hat keine andere Möglichkeit. Ich weiß das und wenn ich solche Situationen erzähle, dann sagen mir das auch andere. Die haben Recht. Aber ich existiere auch noch. Als Mensch. Nicht nur als Mutter und als all die anderen Rollen, in die ich unfreiwillig schlüpfen muss. Ich hab auszuhalten. Und dankbar sein. Ganz wichtig, ich muss dankbar sein für die guten Momente. Dass ich es ohnehin bin, ist unerheblich. Ich werde angehalten, meinen Fokus allein darauf zu richten. Immer und immer wieder. 

Dabei mag ich nicht mehr dauerdankbar sein. Ich mag sagen dürfen, dass ich verletzt bin, dass ich als ich selbst mich nicht gesehen fühle. Aber dann wirke ich undankbar. Mein Kind lebt ja noch, was mit zwölf Jahre nicht unbedingt zu erwarten war. Sie könnte schon längst verstorben sein, so wie viele andere Kinder vor ihr. Also lieber dankbar sein. Und lieber nicht so laut erzählen, was mich meine Dankbarkeit immer wieder vergessen lässt. Fühle ich mich dann besser? Nein, absolut nicht. Dann jammere ich zwar nicht andauernd, aber ständig so zu tun, als wäre alles eitel Sonnenschein fühlt sich alles andere als authentisch an. Schon fast ein Dilemma. In so einer Zwickmühle hatte ich neulich beschlossen, dass es vermutlich besser ist, ein für alle Mal meine Klappe zu kritischen Themen zu halten. Will ja eh keiner hören.

Und da war dann diese eine Nachricht. Von einer Mama, der es sehr ähnlich geht wie mir und die da schreibt, dass sie sich bedankt, dass ich laut ausspreche, was sie sich nur denkt. Da war die Nachricht einer Mama, die sich bedankt, dass ich öffentlich darüber rede, weil sie sich nicht mehr ganz so allein fühlt. Bislang dachte sie, nur bei ihr wäre das so. Da war die Nachricht von der Mama, die sich bei mir bedankt, dass ich sichtbar bin, so hat sie endlich eine Familie gefunden mit gleicher Diagnose, was sie sich schon seit Jahren erhofft hatte. Da war die Nachricht einer lieben Freundin, die eine ganz normale Familie hat und mir erklärt, ich muss immer und immer wieder erzählen, wie das für uns pflegende Eltern ist. Wir MÜSSEN sichtbar sein, sonst wird sich nie etwas ändern. Da war die Nachricht einer entfernten Bekannten, die sich bedankt, dass ich ehrliche Einblicke gewähre in ein Leben, das so ganz anders ist. Aber dann ist da auch die Nachricht, die verurteilt, dass ich das Schreien meines Kindes hören lasse. Dass ich mein Kind mit mir vor die Kamera setze. Wiederwärtig, abartig wäre das. "So ein Kind" würde man nicht zur Schau stellen, erklärt man mir. Das sagt sehr wenig über mich und meine Motivation aus, viel mehr über den die Nachricht Verfassenden, aber es wird laut ausgesprochen.

Am Ende schau ich mir all die Nachrichten an und stelle unterm Strich fest, dass es durchaus Sinn gemacht hat, sichtbar zu sein und ehrlich zu erzählen, wie unser Leben aussieht. Es geht nicht darum, im Wettbewerb "mein Kind ist behinderter als Deins", Platz eins zu belegen. Es geht aber auch nicht darum, mit toxischer Positivität alles schön reden zu müssen, was mein Herz so schwer macht. Es geht um Sichtbarkeit, um Mitgedacht werden, darum keine Schattenfamilie mehr zu bleiben, sondern mittendrin sein zu dürfen. Ich mache also weiter. Bleibe sichtbar, bleibe damit auch angreifbar. Das muss ich in Kauf nehmen. 

Wenn ich nur eine Handvoll Menschen erreichen kann, die ein wenig mehr verstehen, wenn sie mich lesen, die beginnen zu verstehen, in welchen Kleinigkeiten sich das Anderssein oft manifestiert, hat sich meine Sichtbarkeit gelohnt. Wenn ich nur eine Handvoll Menschen erreichen kann, denen die eine oder andere meiner Zeilen Hilfe ist, hat sich meine Sichtbarkeit gelohnt. Wenn vielleicht eine Handvoll Menschen bei nächster Gelegenheit an Familien wie uns denken und überlegen, was es braucht, damit auch wir dazu gehören, hat sich meine Sichtbarkeit gelohnt. Und wenn ich nicht nur mir selber, sondern doch auch anderen ganz tierisch auf den Zeiger gehe, wenn ich mal wieder richtig jammere, dann erinnert Euch vielleicht daran, dass ich im tiefsten Inneren meines Herzens auch ganz anders kann. Auch ich schmunzel gerne einmal. 



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