Inklusion in Zeiten der Krise

In den nächsten Wochen sind die Schulen und Kinderbetreuungsstätten dicht. Nur in streng geregelten Ausnahmefällen können Kinder von Eltern systemrelevanter Berufe betreut werden. Wir gehören nicht dazu. Für uns persönlich werden die nächsten Wochen sicher auch ein wenig anstrengend, aber wir haben aktuell, wenn sich nichts ändert, zum Glück keinen Grund zu jammern. Unsere Betreuungssituation ist derzeit geregelt und da wir Eltern beide seit Jahren im Homeoffice arbeiten, ändert sich auch an unserer Arbeitssituation vermutlich nicht viel. 
Die Schüler sollen nun zu Hause lernen und vor allem um die Abiturienten macht man sich offenbar große Gedanken. Über Schüler von Förderschulen habe ich noch nichts vernommen. Wie sieht es denn mit der Inklusion aus, in Zeiten der Krise?

Wenigstens in der Theorie sind die nächsten Wochen für reguläre Schulkinder organisiert. Viele Eltern jammern dennoch jetzt schon, weil ihnen nicht klar ist, wie sie sicherstellen sollen, dass die Kinder wirklich lernen und den Stoff alleine aufbereiten können. Wirklich? Wirklich?! Über Monate haben uns die Schüler doch angeblich zeigen wollen, wie eigenverantwortlich sie Versammlungen zum Klimaschutz organisieren können. Wie selbstbestimmt sie entscheiden, wann für sie lernen und wann demonstrieren sinnvoller ist und jetzt soll es ein Problem sein, vor allem für die Schüler höherer Klassen, sich um die eigene Zukunft zu kümmern? Wenn dem so ist, läuft etwas schief. Aber in der Theorie sind die nächsten Wochen immerhin geregelt. Gut, der Zugriff auf die online-Lernplattformen funktioniert nicht so, wie geplant, aber da kann man sicher nachbessern. Immerhin gibt es Pläne. Von den Schülern der Förderschulen habe ich da leider nichts gehört.

Auch in dem Punkt müssen wir persönlich nicht klagen. Wir haben das große Glück, dass wir zum einen von der Einrichtung unserer Tochter auf dem Laufenden gehalten werden, was im Unterricht an Förderung stattfindet und wir persönlich haben weiterhin das Glück, dass unserer Schulbegleiterinnen ja wissen, was im Unterricht passiert und da sie vermutlich zu Hause betreuen dürfen, können sie das Programm einfach durchziehen. Leider ist das aber alles andere als selbstverständlich. Viele Eltern sind nicht gut informiert und stehen nur vor einem Problem, weil - entgegen geplanten, langen Auszeiten wie in den Sommerferien - nun keine Alternativbetreuung greift. 

Was auch uns betrifft, ist der Ausfall von Therapien, die sehr häufig in den Einrichtungen der Förderschulen stattfinden und für die in geplanten Schließzeiten Alternativen organisiert werden können, nicht so jetzt in der Krise. Das bedeutet, dass ausgerechnet die Schwachen der Gesellschaft, die auf diverse Therapien angewiesen sind, in den nächsten Wochen allein gelassen sind. Keine Physiotherapie, Atemtherapie, Ergotherapie, Logopädie und auch keine Mal-, Hippo-, Musiktherapie und kein Intensivschwimmen werden stattfinden. Für viele Kinder bedeutet das massive Rückschritte in Kauf nehmen oder gar gesundheitliche Defizite. Nicht alles können Eltern auffangen.

Wir haben das Glück gut angeleitet zu sein und im Homeoffice arbeiten zu können. Ich weiß allerdings auch, dass es einen gewissen Vorlauf brauchte, bis mein Homeoffice seinerzeit etabliert werden konnte. Kein Betrieb hat von heute auf morgen das nötige Equipment und die nötigen Voraussetzungen, um alle Mitarbeiter ins Homeoffice zu schicken. In manchen Berufen geht das auch gar nicht. Gerade in Familien mit beeinträchtigten Kindern ist jedoch die Scheidungsrate relativ hoch. Das bedeutet, wir haben hier überdurchschnittlich viele Alleinerziehende, die nun vor einem echten Problem stehen. Während Eltern von normalen Kindern sich unter Umständen mit zwei, drei Nachbarn zusammen tun und die Kinder gegenseitig, abwechselnd betreuen können, ist das Eltern von Kindern mit Beeinträchtigung nur in den allerseltensten Fällen möglich.

Nicht nur Kinder wie unsere Tochter, die einen erhöhten Pflegebedarf haben, sondern auch Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten oder chronischen Erkrankungen, autistische Kinder oder Kinder mit Down Syndrom können nicht einfach bei anderen Familien mitbetreut werden. Warum eigentlich nicht? Inklusion wird doch eigentlich seit einigen Jahren so groß geschrieben. Leider existiert diese Inklusion hauptsächlich in der Theorie. Praktisch gibt es nach wie vor kaum Berührungspunkte zwischen typischen Familien und Familien mit Kindern, die einen besonderen Bedarf haben. Niemand weiß so recht, wie man mit diesen "anderen" Kindern umgehen soll. Was kann man erwarten, womit muss man rechnen, was für einen Bedarf haben "solche" Kinder. Ein selbstverständliches Miteinander gibt es schlichtweg nicht. 

Ich erwarte natürlich nicht, dass sich jetzt ganz schnell etwas ändert, ich bin Realist und keine Träumerin. Mir zeigt nur gerade die aktuelle Situation, wie wenig echte Inklusion in unserer Gesellschaft wirklich gelebt wird. Wenn Notfallpläne Regelungen für Abiturienten ganz selbstverständlich vorsehen, aber nicht für Förderkinder, lässt das tief einfach tief blicken. 

Aber heute ist ja Wahl und an vielen Positionen wird sicher der eine oder andere Kandidat ausgetauscht werden und neue Besen werden kehren. Vielleicht kehrt ja der eine oder andere auch mal in den Ecken und nimmt den anderen Rand der Gesellschaft, den unteren Rand auch wieder mehr mit in den Blickpunkt und ins normale Leben. Und wer weiß, vielleicht ist eines Tages Inklusion wenigstens im Alltag völlig selbstverständlich. Für den Moment werden wir diese Krise hoffentlich möglichst unbeschadet alle überstehen und durch die Schließungen ist immerhin die Ansteckungsgefahr für alle möglichen Krankheiten für immunschwache Förderschüler weitgehend eliminiert. Gibt immer etwas Positives.

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