Vielleicht solltest Du ja ...

Die meisten Mütter kennen das: Wir werden überschüttet mit gut gemeinten Ratschlägen. "Vielleicht solltest Du es doch mal mit Stillen versuchen", wenn Du Dein Kind - aus welchem Grund auch immer - mit der Flasche groß ziehst. "Vielleicht solltest Du langsam mal abstillen", wenn Du nach neun Monaten immer noch stillst und Dein Gegenüber das einfach zu lang findet. "Vielleicht solltest Du langsam mal mit der Beikost anfangen." "Vielleicht ist es einfach noch zu früh für die Beikost" und so weiter und so fort. Das setzt sich fort mit Kindertagesstätte, mit Kindergarten, mit Hort und hört natürlich nicht bei der Berufstätigkeit auf. Kennen alle Mütter, bin ich sicher. Egal, was Du tust, es ist eigentlich immer falsch.


Ganz interessant wird es, wenn es eben um Berufstätigkeit geht. Wenn Du arbeitest, lässt Du Deine Kinder im Stich, bleibst Du zu Hause, bist Du eine altmodische Glucke. Und wenn Du pflegende

Mutter eines Palliativkindes bist? Dann wird es ganz wild. Dabei haben die meisten Eltern gar keine Wahl. Wenn ein Kind eine sehr schwere Behinderung hat und ständig auf Pflege angewiesen ist, muss in den meisten Fällen wenigstens ein Elternteil die Erwerbsarbeit komplett aufgeben. Zu viele Termine, die wahrgenommen werden müssen, zu viele Krankheitstage, gar Krankenhausaufenthalte, die aufgefangen werden müssen. Das belastet und laugt immens aus. Der wohlgemeinte Ratschlag, wenn diese - meist sind es die Mütter - dann auf dem Zahnfleisch gehen "Du solltest vielleicht doch arbeiten und Dir einen Ausgleich suchen" kommt da eher wie ein Schlag ins Gesicht daher. Rat-Schlag eben. Viele Mütter möchten gerne, aber können nicht. Entweder lässt es der Beruf gar nicht zu, besonders wenige Stunden und die noch flexibel zu arbeiten oder die Arbeitgeber haben wenig Verständnis für die Situation. Also bleiben die Mütter zu Hause. Nicht, weil sie das möchten, sondern aus der Notwendigkeit heraus, dass sich ja irgendjemand verlässlich um das pflegebedürftige Kind kümmern muss. Auf zuverlässige und durchgehende Abdeckung von Pflegestunden durch einen Pflegedienst zu vertrauen, ist im Jahr 2024 vollkommen unrealistisch. Das nur am Rande.

Wer jetzt denkt, dass sich die Schläge, die als Rat daherkommen, aufhören, sobald man es doch schafft, einer Erwerbsarbeit nachzugehen, irrt gewaltig. Mein Mann und ich haben das unfassbare Glück, dass wir in unserer Berufs- und Familienkonstellation beide berufstätig sein können. Keiner von uns in Vollzeit, aber unser Finanzierungsmodell aus mehreren Quellen geht aktuell noch ganz gut auf. Mein Glück ist es, dass ich im Hautberuf an drei Tagen im Homeoffice arbeiten darf und nur einmal pro Woche ins Büro fahre. Mein Arbeitsplatz ist sicher, ich bin inzwischen unkündbar, wenn ich mir nichts zuschulden kommen lasse. Mein zweiter Job ist maximal flexibel. Als Selbständige kann ich mir meine Zeit weitgehend frei einteilen. Sowohl mein Arbeitgeber als auch alle Auftraggeber wissen um meine persönliche Pflegesituation und alle gehen sehr entspannt und maximal verständnisvoll damit um.
Mein Mann ist Freiberufler und hat das gleiche Glück. Er kann von einigen Außenterminen abgesehen, durchgehend im Homeoffice arbeiten und auch seine Auftraggeber wissen von unserer Situation und fragen auch dann immer wieder bei ihm an, wenn er vorher drei Aufträge ablehnen musste, weil es mal wieder nicht anders zu organisieren war mit der Betreuung unserer Hummel. Dieses Privileg haben nur wenige pflegende Eltern. Einer von uns kann immer einspringen, wenn die Fremdbetreuung ausfällt und zur Not arbeiten wir halt, wenn andere schlafen.

Nun passiert es tatsächlich, dass auch wir am Zahnfleisch daher kommen. Das hat in der Regel vielfältige Gründe. Was denkt Ihr, was der erste Rat-Schlag ist, den ich bekomme, wenn ich es wage, meine Erschöpfung zu thematisieren? Richtig. "Vielleicht solltest Du nicht so viel arbeiten." 

Doch. Ich möchte das und ich sollte das genau so tun, wie ich es tue. Warum? Genau aus dem Grund, warum man nicht-berufstätigen Müttern rät, "mal raus zu kommen". Ich möchte das, weil ich das brauche. Ich brauche es, ich selbst sein zu dürfen mit allen Fehlern, die ich mache und nicht die Mutter meiner Tochter. Ich brauche hin und wieder jemanden, der mir sagt, dass ich etwas gut mache, jemanden, der sich freut, dass ich da bin, jemanden, der einfach mit mir unbeschwert herumblödeln und lachen kann. Meine Hummel kann das gar nicht und es ist auch nicht ihre Aufgabe als dreizehnjährige Tochter, sich bei mir für das zu bedanken, was ich für sie tue. Das sollte für jede Mutter selbstverständlich sein. Ich brauche es, einer Arbeit nachzugehen, von der ich wirklich Ahnung habe, bei der ich ziemlich genau weiß, was ich tue. Ich mag meine beiden Berufe und ich mag meine beiden Jobs wirklich gerne und ich arbeite inzwischen auch richtig gerne. Zumeist erwartet mich eine klar definierte Tätigkeit zu einer klar definierten Zeit. Ich hab verlässliche Pausen, in denen ich sogar ungestört essen kann. Wenn ich etwas richtig gut erledige und das jemandem auffällt, werde ich tatsächlich auch genau für diese Leistung mal gelobt. Ich sehe Ergebnisse und wenn es ganz gut läuft auch Erfolg. 
Ich vermittle gerne Erkenntnisse in meinen Seminaren und es ist mir egal, wenn ich mal weit über das eigentliche Ende hinaus noch die letzten Fragen mit beantworte. Es ist wunderbar, wenn ich sehe, dass jemandem ein Stück seines Tagesablaufs erleichtert werden kann, weil ich einen Hinweis hatte, der genau an der Stelle brauchbar und hilfreich war. Das fühlt sich richtig gut an und so ein Wohlgefühl brauche ich einfach für mein Ego. Ich brauche auch mal echte Erfolgserlebnisse und daher möchte ich meine Erwerbsarbeit nicht diskutieren. 

"Aber Du machst doch alles mit Eurer Hummel so toll" kommt sehr häufig in so einem Zusammenhang. Kann schon sein. Und? Es geht mir nicht darum, dass mir gehuldigt wird für das, was ich für mein Kind tue. Ich möchte gar nicht hören, dass ich die beste Mutter bin, die mein Kind sich wünschen könnte, denn das zu beurteilen obliegt allein meiner Tochter. Es geht mir nicht darum, dass ich meine Aufgaben, die mir mit unserer Hummel gestellt werden, gut bewältige. Das hat mit tiefer Verbundenheit und bedingungsloser Liebe zu meinem Kind zu tun. Aber: Ich bin weder Physiotherapeutin noch Logopädin noch Pflegekraft und hätte ich Medizin studieren wollen, hätte ich es ganz einfach getan. Wollte ich aber nicht und somit kann ich mit Fug und Recht behaupten, dass ich das, was ich machen MUSS, wirklich nicht gerne mache.
Ich hasse es, täglich mit unserer Hummel turnen zu müssen, dafür Sorge zu tragen, dass sie alle notwendigen Hilfsmittel und Medikamente zur Verfügung hat. Ich würde lieber Quatsch mit ihr machen oder die Haare frisieren (würde sie es denn zu schätzen wissen), Jeans einkaufen gehen und den neuesten Badeanzug in völlig unbequemen und unvorteilhaften Umkleidekabinen probieren. Natürlich pflege ich unsere Hummel mit Hingabe und tue alles nur Menschenmögliche, damit es ihr gut geht. Ich recherchiere, ich bereite vor, ich denke mit, ich mach das schon. Ich sorge von ganzem Herzen unwahrscheinlich gerne für unsere Hummel, weil sie mein Ein und Alles ist. Aber ich hasse die Pflege.
Das darf ich so nicht sagen? Doch, das darf ich sagen. Das stimmt nämlich und ich bin ziemlich sicher, dass ich nicht die einzige pflegende Mutter bin, die das von sich behauptet. Ich hasse es, pflegen zu müssen und alles, was damit im Zusammenhang steht. Die Therapien, die Bestellungen, die Anträge, die Widersprüche, die Pflege an sich. Viel lieber wäre ich einfach eine coole Mutter, unbeschwert und bei einem dreizehnjährigen Mädchen vermutlich mit wenig Hürden auch berufstätig. 

Vielleicht sollte ich das nicht SO sagen? Doch, das sollte ich. Laut und deutlich. Wenn ich es nämlich nicht tue, gibt es diese eine, andere Mama irgendwo auf der Welt, die genau so empfindet wie ich, die ihr Kind liebt wie nichts und niemanden, aber alles an der Pflegesituation hasst und die denkt, sie wäre die Allereinzige auf der Erde, die das so sieht. Es mag für viele erstaunlich sein, aber das geht. Man kann so empfinden. Es gibt sie tatsächlich, diese Gleichzeitigkeit. Unsere Welt ist auch in dieser Hinsicht nicht schwarz oder weiß, es gibt beides und viele Schattierungen dazwischen.
In der Juristerei ist das übrigens völlig normal. Das Abstraktionsprinzip zu verstehen, hat für mich sehr lange gedauert während meiner Ausbildung. Als der Groschen gefallen war, war alles andere für mich nicht mehr logisch. Vielleicht sehe ich deshalb die Welt manchmal mit leicht anderen Augen. Vielleicht gibt es deswegen so häufig Gleichzeitigkeit für mich. Vielleicht ist es ja meine Form des täglichen Abstraktionsprinzips und vielleicht sollte ich auch gar nicht versuchen, das zu erklären. Es ist so und vielleicht sollte ich das auch einfach so stehen lassen.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Nicht ganz dicht, oder?

Wenn das Sterben zum Leben gehört

Urlaub im Sternenzelt