Ich bin die andere Mutter

Ich bin Mutter einer behinderten Tochter. Nein, das ist falsch glaube ich, ich muss sagen, dass ich Mutter einer Tochter mit Behinderung bin. Das ist politisch korrekt. Glaube ich. Aber ich weiß es nicht. Ich mach viele Fehler. Jeden Tag. Nun hab ich schon so meine Bubble gefunden, in der ich nicht mehr so arg auffalle, aber trotzdem gehöre ich meist nicht ganz dazu. Ich bin irgendwie immer die andere Mutter, die mit dem anderen Kind.

Das ging schon ganz früh los in der Schwangerschaft. Die konnte ich leider nicht genießen, wie sich das für eine Schwangere gehört. Selbst meine Fehlgeburt endete als Ausschabung, weil mein Körper nicht begriffen hat, dass die Schwangerschaft beendet ist. Unsere Hummel hat sich für meinen Geschmack viel zu früh eingenistet und dann gab es auch ständig irgendwelche neuen Prognosen und Diagnosen in der Schwangerschaft, dann noch den Gestationsdiabetes, es war echt kein Vergnügen. Aber ich passte auch da nicht ins Schema. Mein Ehrgeiz, möglichst wenig Insulin zu brauchen, trug Früchte und so ganz genau hat von den Ärzten keiner verstanden, wie ich bis kurz vor der Geburt noch täglich meine vier Kilometer gehen konnte. Ich war anders als erwartet.

Auf der Intensivstation hab ich auch nicht so recht zu den Müttern gepasst. 99% der Mamas hatten Frühchen, ich war die andere Mutter, die mit dem behinderten Kind. Jedenfalls mit dem Kind, bei dem gleich klar war, dass es eine Behinderung hat. Seltener Gendefekt mit ungewissem Ausgang.

Beim Babymassagekurs, bei der Physiotherapie, bei allen Arztterminen, ich war immer die andere Mutter, die in kein Schema gepasst hat. Wer soll auch bitte verstehen, dass ich nur kurze Zeitfenster habe, in denen ich mal nicht pumpen oder stillen oder turnen muss? Eine Frühchenmama ist nach einem halben Jahr zu Hause sein, meist einen gewaltigen Schritt weiter oder das Kind ist nach wie vor so klein, dass eh keiner drauf kommt, dass es sehr viel weiter sein müsste. Ich war anders, ich war immer auf dem Sprung, nervös.

Dann kam die Kindergartenzeit. Ich soll das mal genießen, hieß es. Aber wie soll ich das denn, wenn ich arbeiten gehen muss, das Kind aber ständig krank ist, manchmal krankenhauskrank? Das stresst. Arbeiten musste ich aus verschiedenen Gründen, weil mir gar nichts anderes übrig blieb. Damals wollte ich das gar nicht so dringend, aber ich musste und schon war ich wieder die andere Mutter. Bei den Peers, die Mutter, die arbeiten ging und bei den anderen, die Mutter, die eigentlich nicht arbeiten gehen wollte. Immerhin war das Aufgabengebiet nach meinem Gusto, das hat die Arbeit sehr erleichtert.

Im Laufe der Zeit wurde mein Leben einsam, weil ich einfach nirgends dazu passte. Viel zu viele Verabredungen musste ich, oft in letzter Minute, absagen, irgendwann hab ich gar nicht mehr zugesagt, irgendwann wurde ich auch gar nicht mehr eingeladen. Das war in Ordnung für mich, aber halt ein wenig einsam. Während die andere Mamas mit ihren Kindern noch auf dem Spielplatz waren oder im Schwimmbad, war ich zu Hause und hab meine Tochter sondiert und die Physiotherapie erledigt. Ich war halt anders.

Immer häufiger hab ich aufgehört, nach den "normalen" Müttern zu schielen. Gleichgesinnte tun mir viel besser. Ich muss kaum Erklärungen abgeben, man weiß wovon gesprochen wird, auch wenn Fachbegriffe fallen, wenn einfach nur Zahlen im Raum stehen. Man versteht sich, weiß, was 97/85 bei 0,75 bedeutet. So ganz dazugehörig fühle ich mich aber trotzdem nicht. Ich bin oft die Mutter mit dem sehr schlechten Gewissen, wenn ich sehe, was andere alles stemmen, die Mutter, die nie so richtig dankbar ist für dieses besondere Leben..

Wochenlange Rehaaufenthalte, mühevoll organisierte Hilfsmittel, tägliche, stundenlange Förderung der Kinder, die auch gewaltige Fortschritte machen und dann bin da ich, die andere Mutter. Ich bin sehr häufig einfach zu müde um mehr zu fördern, um mich um weiteres zu kümmern, um mein Kind zu motivieren. Ich bin oft zu frustriert, um meinen Hintern nochmal hoch zu kriegen, um doch noch mal eine weitere Therapie in Angriff zu nehmen. Inzwischen sehe ich in Allem sofort die Hürden und da gibt es leider bei unserem Kind einige. Die Aufmerksamkeitsspanne ist sehr gering, die Temperaturregulierungsstörung ein Problem, die Anfallssituation oft unterirdisch und dann sollte ich noch überlegen, wie lange ich warten sollte, bis ich nach dem Sondieren das Haus wieder verlasse.

Ich bin die Mutter mit dem schlechten Gewissen, weil ich sehe, wie andere Mütter dankbar sind für ihr Leben, ihre Kinder nicht anders haben möchten, als genau so, dankbar sind, dass sie genau das erleben dürfen, weil das Leben eben so anders ist als gedacht. Und dann bin da ich.
Ich liebe meine Tochter uneingeschränkt und bedingungslos und zwar genau so, wie sie ist. Aber ich würde mir für sie und für uns sehr wohl wünschen, dass sie anders wäre. Ich würde mir für sie wünschen, dass sie sich zuverlässig äußern kann und ihrer Umwelt mitteilen, was sie möchte und was sie verabscheut. Ich möchte für sie, dass sie wählen kann, was sie isst, wieviel und ob überhaupt. Ich möchte ihr auf jeden Fall die ganzen Anfälle ersparen, die Schmerzen, das Unwohlsein, von dem wir oft nicht wissen, woher es kommen könnte. Ich würde ihr Freunde wünschen, mit denen sie spielen kann, die sie einladen kann, die wir zu Ausflügen mitnehmen, weil sie das genießen könnte. Ich wünsche ihr Pyjamaparties und eine Woche Ferien bei Oma und Opa ohne dass wir Eltern dabei sind. Ich wünsche ihr einen Abend sturmfreie Bude, die Musik, die sie hören möchte, laut aufdrehen können. Ich würde ihr wünschen, dass sie Begeisterung und echtes Interesse für Dinge zeigen kann, dass sie selbständig spielen kann, dass sie greifen kann, dass sie auf etwas zeigen kann, das sie fasziniert. Das alles würde ich ihr wünschen. So eine Mutter bin ich.

Es macht mir etwas aus, dass es nicht so ist. Natürlich mache ich das Beste aus der Situation. Das hab ich gelernt und ich versuche immer, alle Energie möglichst zu bündeln und effizient zu kanalisieren. Ich bin ganz zufrieden mit dem, was wir erreicht haben, obwohl ich weiß, dass es sicher mehr sein könnte. Ich bin aber auch realistisch genug um zu wissen, dass in 24 Stunden nicht alles geht und dass es wichtig ist, dass ich auch ein Minimum an Regeneration für mich habe. Und wenn das bedeutet, mit meiner Tochter auf dem Bauch am Nachmittag eine halbe Stunde zu schlafen, dann ist das so. Trotzdem nagt das schlechte Gewissen, weil ich sicher in der Zeit auch mein Kind alleine hinlegen könnte über einen Keil und irgendwas im Haushalt erledigen könnte oder aber mehr Physio unterbringen könnte. Die Mutter bin ich, die sich dann doch schlecht fühlt.

Ich bin nicht glücklich mit diesem Leben. Mein Leben habe ich mir anders vorgestellt und auch wenn Holland tausend Mal nett ist, wenn ich nach Italien möchte, dann möchte ich Italien und Parmesan und keinen Gouda. Natürlich gibt es in meinem Leben viele schöne Momente, aber so als Ganzes mag ich es nicht sonderlich. Es könnte schlechter sein, viel schlechter, dessen bin ich mir bewusst, aber schlimmer geht ja sowieso immer. Und dass ich auf vergleichsweise hohem Niveau jammere, ist mir durchaus bewusst. Bin ich halt so. Undankbar, verbittert, zynisch, verknarzt.
Würde ich wieder vor der Wahl stehen, ob dieses Kind zur Welt kommen soll, würde ich ohne mit der Wimper zu zucken, wieder genauso entscheiden wie damals. Auch wenn ich wüsste, was konkret auf mich zukommt. Aber muss ich mein Leben lieben, nur weil ich es nicht ändern kann? Muss ich mich zwingend als glücklich bezeichnen, nur weil ich das Beste raushole? Ich hab kein Kind, dass übers ganze Gesicht strahlt, wenn es vom Ferienprogramm nach Hause kommt. Ich hab ein Kind, das im besten Fall unbelastet wirkt und das ganz extrem den bayerischen Grundsatz "net gschimpft is globt genug" für sich interpretiert. Muss ich zwingend dankbar sein für herausforderndes Verhalten, nur weil Pubertät halt immer so ist und das so herrlich normal ist? Sonst bin ich doch auch nicht normal? Ich weiß, dass sie Frust nicht anders äußern kann, aber muss ich das lieben, nur weil ich mein Kind liebe? Warum soll ich denn alle Situationen, die ganz massiv von der Norm abweichen für mich zwanghaft uminterpretieren um sie mir schön zu reden? Ich möchte das nicht. Das zu tun ist für sehr viele Mütter genau das, was sie brauchen. Das, was ihnen hilft, dieses Leben nicht nur zu akzeptieren, sondern zu genießen, zu bewältigen, gut und gerne zu leben. Für all die Menschen ist es auch richtig und gut. Aber ich bin nicht so, ich bin anders.

Wir leben in einer Welt, in der im Wesentlichen schwarz oder weiß existiert, die vielen Grautöne überfordern vielleicht auch einfach viele Menschen. Ich persönlich nehme sie für mich in Anspruch. Ich nehme in Anspruch, dass ich mein Kind mit ganzem Herzen liebe, alles für meine Tochter tue, was in meiner Macht steht, damit ihr Leben die größtmögliche Qualität erfährt. Zeitgleich möchte ich für mich in Anspruch nehmen dürfen, dass mich das Ergebnis, wenn ich damit einverstanden bin, zufrieden macht, aber nicht zwingend glücklich machen muss. Ich möchte meinen Frieden mit dem gelebten Tag finden dürfen ohne mein Leben großartig finden zu müssen. Ich möchte sagen dürfen, dass ich die Schnauze voll habe und trotzdem meine Tochter als mein Ein und Alles sehen. Ich kann stolz auf sie sein und ich kann sagen dürfen, dass mich ihr Zähneknirschen zur Weißglut treibt. Ich kann feststellen, dass ich enorm viel gelernt habe, dass ich wertvolle Menschen kennengelernt habe, die ich mit einem "normalen" Kind nie getroffen hätte. Vielleicht hätte ich dann jedoch andere wertvolle Menschen kennengelernt und andere, wichtige Dinge erfahren. Es kann doch beides nebeneinander existieren, ohne dass ich mein Leben gleich voller Dankbarkeit in den Himmel loben muss.

Ich möchte niemanden angreifen, der für sich entschieden hat, Glück und Dankbarkeit zu empfinden. Das ist nicht nur legitim, wenn es ein Entschluss ist, sondern einfach großartig, wenn es genau so empfunden werden kann. Jeder geht mit seiner Situation individuell um und empfindet anders. 

Für mich kann ich leider nicht schwärmen über eine tolle Entwicklung, obwohl ich erreichte Mini-Meilensteine ausgesprochen zu schätzen weiß und sie sehr wohl wahrnehme. Aber progredient bedeutet eben unterm Strich, dass in Summe nichts besser wird. Vermutlich ist mein Realismus genau der Grund, warum ich die Summe sehe und nicht die einzelnen Formeln feiere. Buchhalterin. Stier. Beamtin. Schlechte Kombi für überbordende Dankbarkeit und Freude. Für mich selbst ist es eigentlich so in Ordnung.  Nur wenn ich nach draußen schaue und sehe, wie glücklich und zufrieden andere Mütter in ähnlicher Situation sind, weiß ich, dass ich halt anders empfinde. Ich bin halt die andere Mutter. 

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