Von den kleinen Abschieden

Seit dem letzten Klassentreffen habe ich wieder mehr oder weniger häufig Kontakt zu einer früheren Schulfreundin. In den letzten Jahrzehnten hatten sich nicht nur unsere Wege getrennt, unser beider Leben ist auch recht unterschiedlich verlaufen. Meine Schulfreundin musste schon recht früh schwere Schicksalsschläge verkraften, musste Verluste sehr naher Familienangehöriger miterleben und verkraften. Ich dagegen durfte meinen Start ins eigene Leben, ins Berufsleben mit der Unterstützung beider Elternteile beginnen. Drei normaltypischen Kindern ist meine Schulfreundin Mama, ich bin Mama einer Sondenprinzessin mit lebenslimitierender Diagnose.


Meine Freundin arbeitet seit geraumer Zeit ehrenamtlich als Hospizhelferin und schreibt über ihre Gedanken und anonymisierten Erlebnisse auf Instagram. So klar strukturiert wie sie selbst ist, betreibt sie auch ihren IG Account (abgerechnet.wird.zum.schluss). Schwarze Schrift auf weißem Grund, meist nur ein Wort, maximal ein kurzer Satz, die Ausführungen dazu gibt es in der Bildunterschrift. Da liest man beispielsweise "Warum?", "Können wir uns vorbereiten?", "manchmal" und dazu gibt es eine Reihe von Ausführungen, Gedanken, Erlebnissen. Sie schreibt sehr schön, was im Zusammenhang mit dem Tod und der palliativen Begleitung von schwer kranken oder sterbenden Menschen für manche befremdlich klingt, für mich ist es tröstlich.

Wenn man Eltern eines Kindes ist, das mit einer lebenslimitierenden Diagnose zur Welt kommt und richtige Urlaube nur in einem Kinderhospiz machen kann. Wenn man regelmäßig Kontakt zum Kinderpalliativteam hat, damit das eigene Kind gut betreut ist, hat man vermutlich ein anderes Verhältnis zum Sterben, zumal es auch bei uns schon häufiger Situationen gab, in denen wir nicht wussten, ob wir die nächsten Stunden mit unserem Kind gemeinsam erleben werden. 

Tatsächlich tut es mir sehr gut und ist sehr tröstlich für mich, mit meiner Schulfreundin über das Thema Tod und Sterben so selbstverständlich sprechen zu können. Es tut gut, dass der Tod dadurch irgendwie selbstverständlich wird. Dennoch hat mich ein Begriff mal richtig getriggert. "Abschied". Es hat eine Weile gedauert, bis ich für mich sortieren konnte, warum das so ist. Abschied nehmen müssen Eltern wie wir so oft im Leben ihrer Kinder, das fing in unserem Fall schon in der Schwangerschaft an. Vielleicht ist es die Tatsache, dass wir nicht "DEN Abschied" nehmen werden oder nicht nur den, sondern, dass wir eben viele kleine Abschiede nehmen, immer wieder. Wir mussten uns verabschieden von einer normalen Schwangerschaft, von einer normalen Geburt, von der Vorstellung, einfach stillen zu können. Wir mussten uns davon verabschieden, dass unsere Tochter die gängigen Meilensteine erreichen wird. Kein Drehen, keine Aufrichtung, kein erster Schritt, kein erstes Wort und immer die Angst davor, dass noch mehr Selbstverständlichkeiten nicht stattfinden werden oder dass wir sie nicht erleben werden: Der erste Haarschnitt, der erste ausgefallene Milchzahn, der erste Tag im Kindergarten, die Einschulung weil wir gar nicht wissen, wie lange unsere Tochter überhaupt bei uns sein wird. So wie uns geht es vielen Eltern. Abschied nehmen von so vielen Dingen, die für andere Eltern selbstverständlich sind, Abschied nehmen vom "Normalen". Man möchte also meinen, wir Eltern von Kindern mit lebenslimitierender Diagnose haben Übung im Abschiednehmen. Mag sein, es fällt aber dennoch schwer.

Im Beitrag meiner Freundin ging es allerdings um den finalen Abschied. Urplötzlich habe ich mich ins Zimmer der Intensivstation an Weihnachten 2016 zurückversetzt gefühlt. Unsere Tochter hatte einen nicht zu durchbrechenden, epileptischen Anfall und es sah so aus, als würde sie aus diesem Status nicht mehr herauskommen. Das Zimmer füllte sich mit Ärzten und Pflegekräften und ich habe gehofft, dass mein Mann es noch rechtzeitig schaffen würde, um sich von ihr zu verabschieden. Ich erinnere mich daran, dass ich geweint und geklagt habe, dass ich sie noch nicht gehen lassen kann, weil ich nicht vorbereitet bin. Ich war zu feige, mich final mit ihrem Ableben auseinander zu setzen, obwohl ich eigentlich sechs Jahre Zeit dafür gehabt hätte. "Ich hab noch nicht mal ein Grab und weiß nicht, welcher Bestatter zuständig ist" war tatsächlich das, was ich laut formuliert hatte. 

Sie ist an dem Tag nicht gegangen, ich habe aber diese Situation, meine Hilflosigkeit und Verzweiflung in diesen Momenten nicht vergessen. Und ich habe meine Hinterbacken zusammen gekniffen und habe mich gekümmert. Eine Patientenverfügung war bereits formuliert, das war erledigt. Eine Anfrage bei der Gemeinde, ob wir uns schon um ein Grab kümmern sollten, hat der damalige Sachbearbeiter sehr empathisch beantwortet. Der Friedhof wird erweitert, da wird sicher immer etwas frei sein, außer wir möchten einen ganz bestimmten Platz sichern. Phu, keine Ahnung, bislang hatte ich ja nicht mal den Mut, über diesen Friedhof zu gehen, der in Sichtweite vom Kinderzimmer unserer Tochter liegt. Auch da hab ich die Backen wieder zusammengekniffen und bin mit ihr über den Friedhof gewagelt. Aufmerksam habe ich sie beobachtet, ob es eine Stelle gibt, an der sie sich sichtbar besonders wohlfühlt, aber da gab es nichts. Seitdem war ich schon oft mit ihr dort und ich weiß inzwischen, es wird sich der richtige Platz finden, wenn es soweit ist und dann wird es gut sein, wie es ist. 
Selbst mit der zuständigen Bestatterin hatten wir einen Termin vereinbart. Im Gegensatz zu Erwachsenen, wird bei Kindern noch kein Begräbnis minutiös vorgeplant. Sie hat uns aber wertvolle Hinweise gegeben und viel erzählt darüber, was wir dürfen und können wenn es soweit ist und welche Möglichkeiten wir im Vorfeld und in der Begleitung bekommen können. Das war so ausgesprochen tröstlich, dass ich das Gefühl hatte, wenn es soweit sein wird, werden wir das irgendwie schaffen.

Als ich das nächste Mal in so einer Situation war, dass die Möglichkeit bestand, sie nicht mehr mit nach Hause nehmen zu können, ist etwas ganz erstaunliches mit mir passiert: Ich hatte keine Angst mehr und dieses irgendwie angekommene, friedliche Gefühl ist seitdem in jeder kritischen Situation wieder da. Ich vermute, dass es damit zusammenhängt, dass ich versucht habe, mich auf den schlimmsten Moment vorzubereiten. Mit Sicherheit wird es mir dennoch das Herz brechen, wenn es mal soweit sein wird und mit Sicherheit wird meine Trauer, meine Verzweiflung keine Grenze kennen, aber ich bin mir auch ziemlich sicher, dass ich zunächst irgendwie funktionieren werde, wie ich das in Notfällen schon oft getan habe. Ich hab mich in der Theorie ja vorbereitet. 

Ich hatte immer Angst, in ein schwarzes Loch zu fallen, wenn unsere Tochter mal nicht mehr bei uns ist, selbst die Angst ist weniger geworden. Ich hatte mir vorgenommen, mit dem Abschluss meiner Ausbildung als Ernährungsberaterin etwas zu haben, was mich für immer mit ihr verbindet und ich denke, das ist mir gelungen. Kein Mensch weiß, wie es wirklich sein wird, aber das Gefühl zu haben, keine Angst mehr haben zu müssen, tut gut und ist tröstlich. Ich kann wirklich allen Eltern, die in einer ähnlichen Situation sind, nur wärmstens empfehlen, es mir gleich zu tun. Haben Sie den Mut, sich mit dem unvermeidlichen Ende auseinander zu setzen. Ertragen Sie den Schmerz, sich vorzustellen, wie der Sarg aussehen könnte, wo das Grab liegen soll. Weinen Sie sich durch eine Playlist voller Lieder, die für eine Trauerfeier in Frage kommen können. Nehmen Sie den Abschied vorweg und schließen Sie vorab schon Frieden mit Ihrem Schmerz. Bis es soweit ist, müssen Sie vielleicht noch viele kleine Abschiede nehmen. Vom Schlucken, das nicht mehr alleine geht, von der funktionierenden Lunge, die dauerhaft Unterstützung braucht, von der geraden Wirbelsäule, die vielleicht eine Operation nötig hat. Wir können das, Abschied nehmen, daran dürfen wir immer denken und das darf uns Mut machen.



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