Martina, die Graugans

Martina ist ein netter Name, ich überlege grade, ob ich mich vielleicht umbenennen sollte. Kennt jemand Martina? Martina ist die berühmte Graugans von Konrad Lorenz, einem der Väter der Verhaltensforschung. Konrad Lorenz hat mich schon früh fasziniert, ich hatte nämlich Biologie als drittes Abiturfach und da habe ich den guten Konrad gut kennengelernt. Und seine Graugänse. Graugänse sind nette Tiere und können wirklich dynamisch sein, so wie dieses Exemplar hier:

So wäre ich gerne, so dynamisch wie diese Gans - nennen wir sie ruhig Martina, ist ja irgendwie eine Nachfahrin der Berühmtheit. Warum ich mich plötzlich so intensiv mit Martina auseinandersetze? Ganz einfach, weil mir grad alles zu viel ist. Viel zu viel. Ich bin massiv überfordert, angep....t und alles was man sonst noch so akustisch mit einem "böööp" unhörbar und im Print mit "***" unkenntlich machen würde. Ich hab den Überblick verloren und es ist nicht mal so, dass ich nicht mehr kann, ich mag nicht mehr. Die Fülle der Anträge, Nachfragen, Einsprüche, Rechnungen, Kontrollen und, und, und sind mehr als ich länger ertragen mag und es gibt keinen, aber auch wirklich gar keinen Lichtblick am Himmel. Am liebsten würde ich es dieser Martina hier gleich tun und einfach meinen Kopf in den Sand oder von mir aus auch unter den Arm stecken und warten bis alle Kelche an mir vorüber gezogen sind.


Nur leider bin ich nicht Martina und es muss irgendwie weiter gehen. Ich weiß schon, dass ich eigentlich ein Stehaufmännchen bin und mich irgendwann wieder zusammen rappeln und irgendwie weiter machen kann, aber gestern war nicht der Tag dafür. Statt dringend notwendige Abrechnungen zusammen zu klauben, weiter wichtige Anträge zu stellen und mich um wichtige Versorgungen zu kümmern, hab ich Fenster geputzt. Muss auch sein. Zugegeben, die Anträge wären sicher noch wichtiger gewesen, als die Kellerfenster und das Fenster im Gästezimmer, aus dem man durchaus noch ein wenig schauen konnte, aber ich hatte keinerlei Kraft mehr für Anträge. Drum die Fenster und deshalb hab ich so intensiv an Martina gedacht. Wegen der Übersprungshandlung. Die hat nämlich auch der Herr Lorenz so wunderbar erklärt. Es waren meiner Erinnerung nach zwar Hähne, die nach Körnern gepickt haben statt ihr Territorium auszufechten, aber ich glaube die Idee, die ich hatte, wird klar.

Am Abend hab ich lieber gehäkelt als mich den Anträgen zu widmen, auch das eine klassische Übersprungshandlung. Ich bin nicht sicher, ob es gut oder schlecht ist, dass mir das so sehr bewusst ist, was da mit mir passiert. Eigentlich ist es mir egal, denn die depperten Anträge laufen ja leider nicht davon und heute hab ich mich drum gekümmert. Immerhin hab ich festgestellt, dass mir einiges fehlt, was ich noch anfordern muss, so weit war ich gestern nicht. Fertig bin ich deshalb immer noch nicht, aber es ist ein Anfang.
Beim Häkeln hab ich in Erinnerungen geschwelgt an meine Schulzeit und den Stoff der Kollegstufe. Die Mendelschen Erbgesetze fand ich genauso faszinierend wie den roten Bauch der Stichlinge, die nach Eiablage des Weibchens einen Zickzacktanz ausführen. So oder so ähnlich wurde es gelehrt. Faszinierend war das und während des Häkelns hatte ich dann genügend Zeit über all den Stoff nachzudenken, den ich damals für die Biologieprüfungen lernen musste.

Damals hab ich mir noch nicht träumen lassen, dass mir eines Tages die - vermutlich - Tochter eines der Autoren meines damaligen Biologiebuchs den Gendefekt meiner Tochter persönlich erklären wird. Dass sie uns raten wird, die Schwangerschaft nicht fortzusetzen und wie hoch die Wahrscheinlichkeit einer Wiederholung ist. Als sie uns gegenüber saß, hab ich damals einige Minuten gebraucht, bis ich ihren Namen zuordnen konnte und war verblüfft, die gleichen Zeichnungen, die wir im Unterricht für Gendefekte gelernt hatten, nun plötzlich live vor meinen Augen gezeichnet zu bekommen. Aber ich schweife ab. Es ging um meine Übersprungshandlungen. Oder war das auch schon wieder eine? Ist Sprunghaftigkeit gleichzusetzen mit Übersprungshandlung? Werde ich zu philosophisch? Vielleicht drücke ich mich grad wieder vor irgendeiner Aufgabe und es ist mir ausnahmsweise noch nicht bewusst. Wer weiß das schon. Es gibt immerhin viel, was mich derzeit aufregt, da könnten schon noch einige Sprünge drin sein. Irgendwie beneide ich Martina.


Diese Fähigkeit hätte ich gerne. Gut, ganz hinten ist sie noch nicht angekommen, aber ich denke auch hier spricht das Bild Bände. Martina muss sich übrigens nicht drum kümmern, wo das, was hinten wieder raus kommt, landen kann. Die macht einfach. Wo sie geht und steht. Die hat kein Klo. Weder weiblich noch männlich noch divers. Kann mir eigentlich an dieser Stelle mal jemand erklären, wer eigentlich dieses "diverse" Häusl aufsucht? Entweder ist mir nach  einem Urinal oder nach einer Schüssel, aber irgendwas dazwischen gibt es doch technisch nicht oder hab ich anatomisch was verpasst? Aber vielleicht ist ja die künftig zum Standard werdende dritte, diverse Toilette für Menschen wie meine Tochter gedacht. Ist sie vielleicht divers? Ein Mensch, der weder die weibliche noch die männliche Toilette aufsuchen kann, sondern darauf angewiesen ist, dass es eine große Liege als Wickelmöglichkeit und vielleicht im Idealfall noch einen Lifter gibt? Ist das divers? Wenn dem so wäre, wäre unser Land mal wirklich innovativ. Ich fürchte nur, da bin ich auf dem Holzweg.

Aber ich schweife schon wieder ab. Konrad Lorenz hat mich mit seinen Theorien offenbar intensiver geprägt als ich mir das je träumen ließ. Ich überleg mal, ob ich mir "Martina" wenigstens als Künstlername zulegen kann. Ich kann mich so gut mit Gänsen identifizieren. Ich fühl mich nämlich auch so schlau. Schlau genug um zu wissen, wie mein Verhalten manchmal zu deuten ist und schlau genug, um an manchen Tagen Problemen einfach zu begegnen wie Martina und die richtige Richtung einzuschlagen. Was über mich gesprochen wird, hört an diesen, manchen Tagen dann meine Rückseite. Tut auch mal gut. In diesem Sinne - Martina, lass uns Schwestern sein!


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