Manchmal möchte ich einfach nur Mama sein

Eigentlich bin ich Verwaltungsbeamtin. Das hab ich gelernt. Drei Jahre Ausbildung an der FH und in der Praxis haben mich für meinen Beruf gerüstet. Als Jugendliche hab ich mein Taschengeld mit Babysitten und Nachhilfe verdient. Bevor ich meine Ausbildung begonnen habe, habe ich ein Freiwilliges Soziales Jahr im Zentrum für Körperbehinderte in Würzburg absolviert, in einer Internatsgruppe für schwerst mehrfach behinderte Kinder und Jugendliche. Als irgendwann der Wunsch in mir reifte, Mama zu werden, dachte ich wirklich, ich wäre gut darauf vorbereitet und ich kann das.


Gut, der Start war nicht perfekt, aber man wächst ja an seinen Aufgaben und nach ein paar Wochen
hatte sich sowas wie Routine eingestellt und es ging irgendwie. Aber irgendwie hatte ich mir das Mama sein anders vorgestellt. In meiner Illusion wäre ich diejenige, die spürt, was ihr Kind braucht und die auch entscheidet, was zu tun ist, aber die Realität sah ganz anders aus.

Ärzte und Therapeuten haben den Ton angegeben. "Sie müssen unbedingt...", "Auf jeden Fall ist es wichtig, dass ..." - jeder wusste was zu tun ist und in welchem Umfang, das ist auch heute noch oft so. Dabei haben sowohl Ärzte als auch Therapeuten offenbar manchmal übersehen, dass mein Tag nur 24 Stunden hat. Aber natürlich musste die Maus möglichst gut gefördert werden und das von Anfang an.

Schon von Beginn an gestaltete sich die Ernährung unserer kleinen Prinzessin sehr schwierig. Zunächst hat sie es noch geschafft, ein wenig zu stillen, aber nachdem sie begriffen hatte, wie das mit der Flasche funktioniert, war nichts mehr anderes interessant.


Das heißt, ich musste pumpen. Pumpstillen nennt man das, habe ich gelernt und damit die Milch gut fließt, wird empfohlen, möglichst jede Mahlzeit nachzupumpen. Also bis zu zehn Mahlzeiten am Tag. Die wollten ja auch noch gefüttert werden. Wickeln, waschen versteht sich von selbst und drei Mal am Tag Physiotherapie. Für die Anleitung musste ich ein oder zwei Mal in der Woche in die Praxis fahren, dann hatten wir noch Babymassagekurs, später Babyschwimmkurs und die Sehfrühförderung begann ebenfalls. Eigentlich hätte ich noch UNBEDINGT die Hörfrühförderung organisieren sollen, nur leider hatten die keine Kapazitäten um ins Haus zu kommen und auch nur wenig Termine im Haus. Also sollte das mit der Sehfrühförderung abgedeckt werden. Ganz nebenbei haben wir auch noch ein Haus gebaut und sind umgezogen.

Im Laufe der Zeit haben wir eine Stillberaterin kennen gelernt, eine Logopädin, eine zweite Logopädin, eine Ernährungsberaterin, haben Termine bei unserer Osteopathin wahrgenommen und haben das Spektrum der Ärzte ausgeweitet von der Kinderärztin über den Neurologen, Augenarzt, Ohrenarzt, einen weiteren Augenarzt, einen neuen Ohrenarzt, eine neue Kinderärztin, einen neuen Neurologen, einen Urologen, einen Orthopäden, zwei Gastroenterologen und diverse Ärzte und Therapeuten in der Klinik, in der wir immer wieder geplant und ungeplant zu Gast waren. Dabei wollen wir nicht die Pflegekräfte, Erzieher, Therapeuten und sonstigen Betreuer der Tageseinrichtung vergessen.

Von allen Professionen habe ich im Laufe der Jahre viel gelernt, sehr viel und nun bin ich nicht nur Verwaltungsbeamtin, sondern habe auch von allen Disziplinen, die an unserer Maus beteiligt sind, so viel gelernt, dass ich auch ganz viel davon anwenden kann. Ich bin also ein wenig Pflegekraft, Physiotherapeutin, Logopädin, Osteopathin, Heilzerzieherin und Arztassistentin und ganz viel Sekretärin. Die Anzahl der Anträge, Einsprüche, Bestellungen und Rechnungen ist nicht mehr zu messen. Aromatherapie, Fußreflexzonentherapie, Atemtherapie sind auch keine Fremdworte für mich. Und genau so gestaltet sich mein Tag.

Immer wieder fallen Therapien aus, so dass ich selber einspringen und noch ein wenig mehr machen muss als ohnehin jeden Tag und so stehe ich oft täglich bis zu einer Stunde da und therapiere. Außerdem massiere ich, pflege, ernähre, na was halt so dazu gehört. Seit dem Herbst 2012 wird unsere Sondenprinzessin über ihren Schlauch im Bauch ernährt und damit das vernünftig und für sie möglichst gut läuft, befasse ich mich intensiv mit ihrer Ernährung und verbringe ganze Nächte damit, mich mit anderen betroffenen Mamas auszutauschen und herauszufinden, was das Beste sein könnte.

Ich gestehe, dass ich manchmal neidisch bin auf die Mamas, die im Sommer um halb fünf einfach ihre Kinder schnappen und noch zwei Stunden ins Freibad gehen können, während wir schon die Medikamente richten müssen.
Ich bin neidisch auf die Mamas, die am Spielplatz auf der Bank mit anderen Mamas ratschen können, während die Kinder toben, während wir eineinhalb Stunden für Physiotherapie, duschen und Haare trocknen brauchen.
Ich bin neidisch, auf die Mamas, die mit ihren Kindern um halb sieben im Biergarten sitzen können und auf die Mamas, die zum dreiundsechzigsten Mal den Schlittenberg hinunter brettern, während wir schon inhalieren und die Hustenmaschine anwerfen. Wir haben leider einen durchgetakteten Tag, der wenig Spielräume lässt.



Dass der Traum, den ich manchmal noch immer habe, in dem ein blond gelocktes, kleines Mädchen über eine grüne Wiese läuft und mit ausgestreckten Armen auf mich zukommt und "Mama" ruft, nie wahr werden wird, das hab ich verstanden. Ich werde nie ein "Mama" hören, nicht mal die Ärmchen kann unsere Maus nach mir ausstrecken. Ich kann ihr keine Breze in die Hand drücken und keine Fanta genehmigen, weil sie weder essen noch trinken geschweige denn etwas halten und gezielt zum Mund führen kann. Dass sie mich trotzdem mag und erkennt, das weiß ich, denn ich habe gelernt, ihre Zeichen zu erkennen und zu deuten.

Aber manchmal würde ich mir schon wünschen, dass ich statt Vojta zu turnen, häufiger einfach ein Buch mit ihr lesen kann, statt Atemtherapie zu machen, einfach öfter mit dem Tip Toi spielen kann, statt zu inhalieren, einfach lauter mit ihr Musik machen kann. Denn eigentlich möchte ich doch viel häufiger einfach auch mal nur Mama sein.


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