Schmerz

In den frühen 2000er Jahren hatte ich zwei Autounfälle. Bei beiden traf mich zwar keine Schuld, bei beiden wurde ich von schräg rechts hinten angefahren. In der Folge wurden irgendwann zwei Bandscheibenvorfälle diagnostiziert. Ich konnte die genau wie meine erblich bedingten, kaputten Knie immer irgendwie mit mäßiger aber regelmäßiger Bewegung und Physiotherapie bzw. Osteopathie weitgehend schmerzfrei halten. Im Laufe der letzten dreizehn Jahre war das mit den Therapien nicht mehr regelmäßig möglich, weil eigene Termine für pflegende Eltern nur sehr schwer zu organisieren sind. Auch das mit der regelmäßigen Bewegung hängt leider bei unserem Tagesablauf und unserer Familienstruktur weitgehend von besetzten Nachtdiensten ab und da sah es in den letzten Monaten streckenweise nicht so rosig aus. Die Folge sind Schmerzen.


Mein Rücken schmerzt, zum Teil so sehr, dass ich nachts aufstehen und Tabletten einwerfen muss, damit ich überhaupt weiterschlafen kann. Dass meine Hummel inzwischen deutlich über zwanzig Kilo wiegt, macht die Sache sicher nicht einfacher für meinen Rücken. Auch meine Gewohnheit, am Nachmittag eine Runde mit der Hummel zu ruhen, Bauchlage auf mir drauf, trägt leider nicht dazu bei, den Rücken zu schonen. Eher das Gegenteil ist der Fall, bei einer dieser hummelfreundlichen Bauchlage-Gelegenheiten muss ich mir irgendwas massiv verklemmt haben. Seitdem ist der Schmerz leider ekelhaft und kommt immer wieder.

Auch der Kopf schmerzt häufig. Stress verursacht unter anderem Muskelverspannungen und die können zu Kopfschmerzen führen, wenn es den Nacken- und Schulterbereich betrifft. Betrifft es und daher sind meine Kopfschmerzen für mich nicht sonderlich verwunderlich. Auch die Schmerzen in den Armen und den Händen nicht. Das ist Überlastung. Das Sondieren ist trotz leichtgängiger Spritzen ja ein Kraftakt. Auch wenn man es meinem Haushalt leider nie ansieht, putze ich doch recht häufig. Lappen auswinden geht auf die Hände mit der Zeit. Über einige Jahre musste ich Kompressionsstrümpfe anlegen, was auch nicht dienlich war. Drehbewegungen gehen kaum noch, Heben, Tragen und die tägliche Physiotherapie für unsere Hummel gibt meinen Armen und Händen den Rest.

Dummerweise gehöre ich auch zu den Menschen, bei denen bestimmte Geräusche körperliche Schmerzen verursachen. Bei mir ist es das Zähneknirschen und Röcheln, das mich in den Wahnsinn treibt. Ich kann gar nicht so viele Entspannungstechniken anwenden, gar nicht so intensiv atmen, dass ich das ausblenden kann. Selbst ein Knochenkopfhörer, mit dem ich pflegen kann, meine Umgebung wahrnehme, aber dennoch etwas anderes hören, worauf ich mich konzentrieren kann, hilft nur bedingt. Ich spüre, wie mein Herz beginnt zu rasen, wie ich Schweißausbrüche bekomme und Kopfschmerzen, weil mein Kiefer sich verspannt. 

Es ist allerdings nur ein Aspekt der Wahrheit, dass mein Kind mich krank macht. Meine Tochter kann nichts dafür, sie macht auch selten etwas mit Absicht. Warum sie knirscht und ihren Atem so gepresst aus sich heraussprudelt, weiß leider niemand. Im besten Fall ernte ich beim Versuch, genau das zu ergründen, ein Achselzucken oder mitleidige Blicke. Meine Tochter tut mir unendlich leid, weil es sicher sehr anstrengend und belastend ist, so mit den Zähnen zu knirschen und so angestrengt zu atmen. Ich tu mir selbst allerdings auch ein wenig leid. Sie ist kognitiv leider nicht in der Lage, meiner Bitte nachzukommen, doch bitte endlich dieses Knirschen zu beenden. Das löst mein Problem also nicht.

Täglich versuche ich wirklich alles in meiner Macht stehende, wenigstens ihren Schmerz in Grenzen zu halten, im besten Fall zu reduzieren. Häufig scheint sie ja Schmerzen zu haben, weil sie vor sich hinwimert und unleidlich ist. Wenn es auch kein Schmerz-Schmerz ist, so ist es doch irgendein Unbehagen. Ich habe so viele Techniken erlernt im Laufe der Jahre von Physiotherapeuten, Craniosacral-Therapeuten, Osteopathen, Ergotherapeuten und Logopäden, dass ich eine Bandbreite an Wissen habe, die es mir theoretisch ermöglichen, ihr so viel Spannung wie möglich zu nehmen. Leider lässt sie es zunehmend weniger zu. Statt locker zu lassen, macht sie sich steif, arbeitet dagegen und regelmäßig treffen mich ihre Tritte und Schläge. Das Gebrüll, das sie zeitgleich anstimmt, gibt mir meist den Rest. Es tut mir weh, nicht nur körperlich.

Zum Schmerz gesellt sich - wieder einmal - das schlechte Gewissen. Darüber, dass ich die Geräusche meiner Tochter als Schmerz empfinde, dass ich es nicht schaffe, ihre Schmerzen zu lindern, dass ich nicht mehr aushalte, dass ich schon wieder versage. Mein schlechtes Gewissen meldet sich schmerzhaft, wenn ich wütend bin über ihre Wutausbrüche, wenn ich nicht lustig genug bin, sie zum Lachen zu bringen. Unbeschwerte, heitere Tage sind so schmerzhaft selten geworden. Ihre epileptischen Anfälle hilflos begleiten zu müssen, auch das ist Schmerz für mich, begleitet von schlechtem Gewissen darüber, dass ich mir auch für mich selbst wünsche, dass es aufhört und nicht allein für sie. 

Dieser Schmerz, der ist nicht nur körperlich, weil ich mich völlig verspanne, sondern der ist eher so seelischer Art. Mir ist durchaus bewusst, dass es in hoffentlich ferner Zukunft, wieder eine Zeit geben wird, in der ich mich intensiv um meine eigene Gesundheit kümmern kann, in der ich vielleicht sogar täglich sporteln kann, in der niemand in meiner Nähe mit den Zähnen knirscht und niemand mehr röchelt, mich niemand stundenlang anbrüllt und in die Magengrube tritt, mir nicht die Brille von der Nase schlägt und mich rundweg ablehnt. Das Bewusstsein tut mir weh, dass erst dann, wenn unsere Hummel nicht mehr ist, ein Teil meiner Schmerzen vorbei sein kann. Doch dann werden neue hinzukommen. Wie unaushaltbar die dann sein werden, kann ich ja noch gar nicht ermessen.

Bis dahin suche ich weiter Wege, wie ich die Schmerzen aushalten kann, wie ich ihre Schmerzen irgendwie lindern kann. Wechseljahre und Pubertät zur gleichen Zeit helfen sicher nicht dabei, Schmerzen zu lindern. Verzweiflung, Ohnmacht und Tränen bestimmen Teile meiner Tage. Auch das ist Schmerz, wenn ich nicht mehr weiter weiß und nur noch heulend neben meinem Kind stehe. Das Gefühl, versagt zu haben, hatte ich immer wieder, im Moment begleitet es mich nahezu täglich. Und auch das ist in erster Linie eins: Schmerz und es gibt keine sichtbare Lösung.

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