Meine Rolle als Mutter, als pflegende Mutter

Ging es Euch genau so? Wenn man Mutter wird, hat man bestimmte Vorstellungen davon, wie man als Mutter sein möchte. Es gibt sicher Eigenschaften und Situationen, die man ganz bestimmt anders haben möchte, als es die eigene Mutter vorgelebt hat, einiges, was man im Idealfall als gutes Beispiel modern interpretieren möchte und manches, von dem man noch keine Ahnung hat, wie es werden soll. 

Ich habe als Teenager mein Taschengeld mit Babysitten verdient und hatte dadurch ein wenig Erfahrung, vor allem mit sehr kleinen Kindern, die mich dazu verleitet hat, eine Idee zu entwickeln, wie ich sein möchte als Mutter. Und dann kam es völlig anders.


Schon die Geburt war nicht so bilderbuchhaft, wie ich das gewünscht hatte. Kaiserschnitt statt natürlicher Geburt und obwohl ich wild entschlossen war, zu stillen, wollte es nicht mal mit Stillhütchen richtig klappen. Die Pumpe war das erste Hilfsmittel, das ich kennenlernen musste. Gut, bin ich halt nicht die lässige Mutter, sondern eher die disziplinierte, anfangs ging das noch ganz gut. Die ersten Jahre ging das gut und eigentlich ging das mehr oder weniger gut, bis vor einigen Monaten. Ich hatte mich irgendwie in meine Rolle eingefunden. Je älter meine Tochter jedoch wird, umso mehr knabbere ich an meinem Rollenverständnis. Da nagt etwas, das ich ganz lange nicht benennen konnte, aber inzwischen ist mir bewusst, was es ist. Ich habe selten eine Rolle als Mutter inne, ich bin in erster Linie pflegende Mutter.

Aber Mutter ist Mutter, wo ist der Unterschied mögen jetzt manche denken. Es ist halt ein Zusatz. NEIN! Es ist sehr viel mehr als das. Es ist der Unterschied zwischen Traum und Pflicht. Nein, nein, ich möchte damit nicht sagen, dass eine reguläre Mutterschaft immer nur traumhaft ist und eine pflegende Mutterschaft immer nur belastend. Ganz und gar nicht. Beides hat in beiden Szenarien Platz und Berechtigung. Was also soll das, was will ich sagen?

Meine Tochter pubertiert. Ganz eindeutig pubertiert sie. Und wer kriegt das hauptsächlich ab? Klar, die Mama, also ich. Ja, das ist herzerfrischend normal und es gibt vermutlich keine Mutter, die ihr Kind in dieser Phase ernsthaft versteht. Aber ich hatte mal so gute Vorsätze. Ich wollte entspannt umgehen mit dieser Pubertät und jetzt bin ich meist verzweifelt.

Die schwere, geistige Behinderung meiner Tochter führt dazu, dass ich sie eigentlich gar nicht erziehen kann. Der absolute Großteil ihres Verhaltens ist willkürlich und nicht zuverlässig reproduzierbar. In den letzten Monaten lautiert sie zunehmend passend, das ist angenehm, weil unsere Interpretation scheinbar meist ihrem Willen entspricht. Handeln wir entsprechend unserer Interpretation, ist sie sehr häufig entspannt. So richtig wissen können wir nie, was sie möchte. Aber ich höre schon die Stimmen, die mir erklären, das weiß kein pubertierendes Kind, was es in dem Alter eigentlich will. Versteh ich schon.

Bei einem normal entwickelten, kognitiv fitten Mädchen von zwölf Jahren kann ich mir allerdings durchaus überlegen, welche Werte ich vorleben und vermitteln möchte. Will ich die coole Mutter sein oder die sanfte? Findet mich meine Zwölfjährige peinlich, wenn ich mit ihr in die Disko gehen möchte oder findet sie mich hipp? Kann ich ihr helfen, mit den stattfindenden Veränderungen ihres Körpers selbstverständlich und zwanglos umzugehen? Wird sie mir von ihrem ersten Liebeskummer erzählen oder sich einfach vergraben? Werden wir ein freundschaftliches Verhältnis haben oder uns ständig zanken und auf den Wecker gehen? Wie kann ich meine Tochter unterstützen, ein eigenständiges Leben zu führen? Solche Überlegungen würde ich gerne anstellen. Ich möchte vermitteln, dass Empathie, Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit genauso wichtig sind wie Selbstbestimmung, Unabhängigkeit und Rückgrat. Das sind Werte, die mich wichtig sind.

Statt Werte zu vermitteln, kontrolliere ich Werte und zwar schon fast immer. Vitalwerte, Laborwerte. Das muss ich tun. Da gibt es auch keinen Spielraum, da gibt es maximal Handlungsbedarf. Das Leben meiner Tochter, ihr Wohlbefinden, ihre Gesundheit liegen zum Großteil in den Händen von uns Eltern. Geht es meiner Tochter gesundheitlich schlecht, kann es auch daran liegen, dass ich als pflegende Mutter ein Stück weit versagt habe. Als Mutter einer normaltypischen, zwölfjährigen Tochter käme niemand auf die Idee, das zu behaupten. "Sie kennen ihr Kind ja am besten" hören wir oft im Zusammenhang mit medizinischen Kontrollen und Arztterminen. Leider bedeutet das nicht nur, dass unser Gegenüber auf Augenhöhe mit uns weiteres Vorgehen kommuniziert, sondern auch ein Stück weit, dass die Verantwortung auf uns lastet. Wir erkennen Probleme, wir benennen sie, wir recherchieren, wir stellen Fragen und forschen oft selbst nach den Antworten. Das ist Last. Bürde. Nein, meine Tochter ist nicht die Last, die Bürde. Es ist die Situation, es sind die Umstände. 

Auf ein selbstbestimmtes Leben bereite ich meine Tochter nicht vor. Ihre Behinderung ist zu schwer als das dies möglich ist. Ich beobachte und versuche Zeichen zu lesen. Progredient ist ihre Erkrankung und ich muss ständig überlegen, ob sie ein temporäres Problem hat, wenn etwas offensichtlich nicht in Ordnung ist, oder ob das jetzt der Beginn einer nächsten Phase sein könnte. Fragen kann ich sie ja leider nicht, ich kann nur beobachten. Vitalwerte, Laborwerte lesen. Wie immer. Hilfe bei Hausaufgaben sieht völlig anders aus als bei mir mit zwölf Jahren. Ich bringe ihr nicht Fahrradfahren, Schlittschuhlaufen oder Joggen bei. Ich schnalle sie fest im Therapiestuhl, Rolli und Stehständer.

Ich kann begleiten und mich mit Hilfsmitteln auseinandersetzen. Mit vielen Hilfsmitteln im Laufe der Jahre. Ich bin Verwaltungsbeamtin und Ernährungsberaterin, aber kenne mich hervorragend aus mit dem Pulsoxy, dem Flüssigsauerstofftank, dem Highflow, dem Vernebler, dem Hustenassistenten, dem Toilettenstuhl, der Badeliege, dem Therapiebett, dem Therapiestuhl, dem zweiten Therapiestuhl, dem zweiten Toilettenstuhl, den Orthesen, dem Rollstuhl und den Autositzen. Ich habe die Anträge dafür gestellt, die Widersprüche gepinselt, manche Dinge haben wir selbst gezahlt. Ich überwache nicht nur die Werte meiner Tochter, sondern auch die Lieferungen, die Bestellungen. Ich kann die Lunge abhören, ich kann Anfälle begleiten, ich kann einen Gastrotube wechseln - also wenigstens zum Teil. Das entfernen kann der Papa wesentlich besser als ich. Ich kann mit Spritzen umgehen und mit Medikamenten, weiß um Wechselwirkungen und Dosierungen.  Dabei bin ich Mutter. Aber ich bin halt pflegende Mutter.

Viel zu häufig hab ich schon im Krankenhaus geschlafen, kenne die Abläufe auf der neurologischen Station, dem Schlaflabor, der Intensivstation. Ich hab im Krankenhaus gekocht, gelernt verschiedene Wunden zu ertragen und habe Dinge gelernt, von denen ich nie gedacht habe, dass ich sie selbstverständlich neben einem Telefonat erledigen könnte. Wir haben viel gemeinsam durch, gefühlt zu viel, was nicht schön ist.

Ich weiß. dass zwölfjährige Mädchen selten tagelang gut drauf sind, übers ganze Gesicht strahlen, stets freundlich und zuvorkommend sind. Aber manchmal wünsche ich mir ein Türen knallen, ein "blöde Kuh" oder "ich hasse Dich!", das hätte Substanz. Da könnte ich reagieren, sicher auch noch erziehen, mit zwölf. So hatte ich mir meine Rolle als Mutter in etwa vorgestellt.  Statt dessen wehre ich Schläge ab, versuche Gebrüll zu ignorieren, versuche Schmerzen zu lindern und nicht daran zu verzweifeln, dass nur noch selten ein Lachen über ihr Gesicht huscht.

Nun sind es also Vitalwerte und ich sitze nicht in einem Sportturnier und feuere mein Kind an, ich sitze an ihrem Bett und begleite sie. Das ist meine Rolle als pflegende Mutter, zu beobachten, nicht nur zu sehen. Nicht Zuschauerin zu sein, sondern Begleitung. Bis an ihr Lebensende. An diese Rolle habe ich früher nie gedacht, was reichlich naiv war. Es kann jede Mutter treffen, bei mir stand genau diese Rolle von Geburt an fest. Eines Tages bin ich verwaiste Mutter. Dann geht es nicht mehr um Vitalwerte, dann muss ich mich um meine eigenen kümmern. Nicht mehr pflegend. Trauernd. 

Seitdem mir dauerhaft präsent ist, dass ich fast nie die Rolle einer Mutter einnehme, sondern meistens irgendwas zwischen Pflegekraft und Therapeutin bin, ertrage ich manche Situationen noch schwerer als vorher. Ich bin erschöpft und hilflos. Keine gute Basis um als Mensch, dem manche Geräusche körperliche Schmerzen verursachen, stundenlanges Röcheln, Zähneknirschen und anstoßende Atmung zu "überhören". Keine gute Basis um vermeintlich grundlosem Gebrüll empathisch zu begegnen. Mir fehlt schlicht der Ausgleich. Was fehlt ist Unbeschwertheit, Leichtigkeit, mal in den Tag hineinleben und nicht nur nach einem strengen Zeitplan diszipliniert sein. 

Wenn ich an meine Kindheit und Jugend zurück denke, gab es viele Situationen, in denen ich meinen Eltern und Großeltern meine Zuneigung ungefragt und ungefiltert mitgeteilt habe. Genau das ist es, was mir fehlt als pflegende Mutter. MIR. Nicht allen pflegenden Müttern geht das so. 

Meine Tochter ist nicht in der Lage oder aber es findet halt aus welchem Grund auch immer nicht statt, mir zu vermitteln, dass sie mich mag. Dass es in Ordnung ist, dass ich ihre Mutter bin. Jedenfalls meistens ist das so. Da kommt kein Strahlen mehr übers ganze Gesicht - außer sie grimassiert während eines Anfalls oder sie möchte meine Aufmerksamkeit, weil ein Inkontinenzwechsel fällig ist. 
Sie schlingt die Arme nicht um meinen Hals, wenn ich sie trage, sie streckt die Arme nie nach mir aus, sie kuschelt sich fast nie mehr an mich, außer sie schläft in Bauchlage auf meinem Bauch, aber das findet ja auch nicht freiwillig statt. Ablehnung schmerzt.
Zu den körperlichen Schmerzen, die die Pflege mir inzwischen bereitet, kommt der seelische Schmerz. Und die Einsamkeit. 
Weil sich vermutlich jede Mutter im Tiefsten Inneren ihres Herzens wünscht, dass das eigene Kind sie mag, mir jedenfalls fehlt Zuneigung sehr. Ich weiß nicht, ob es so ist, dass meine Tochter mich mag, aber das tut auch nichts zur Sache. Ich muss sie trotzdem durchziehen, so gut es mir möglich ist, meine Rolle als Mutter, als pflegende Mutter.

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