Diagnose: Epilepsie

November ist der Monat der Epilepsie, eine gute Gelegenheit, um unsere Diagnosereihe ein wenig aufleben zu lassen.

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Gleich vorweg möchte ich betonen, dass dieser Beitrag nicht den Anspruch hat, Epilepsie zu erklären. Wie sie entsteht, welche Arten es gibt, wie sie behandelt wird, das alles können Neurologen und Neuropädiater wesentlich kompetenter erklären als ich.
Was ich mit diesem Beitrag möchte, ist die Diagnose "Epilepsie" aus Sicht der Angehörigen von Betroffenen zu schildern.

Bis zu 5% aller Menschen haben einmal im Leben einen epileptischen Anfall, dem keine weiteren folgen. Sie haben keine Epilepsie. Etwa 600.000 Menschen in Deutschland sind an einer Epilepsie erkrankt. Epileptische Anfälle können in jedem Lebensalter auftreten. Diese und weitere Statistiken können Sie auf der Seite der Epilepsievereinigung nachlesen: Link Deutsche Epilepsievereinigung

Viele Kinder, die mit einem Gendefekt zur Welt kommen, einer Trisomie oder einer Zerebralparese, sind leider prädestiniert, sozusagen als Nebenbefund, eine Epilepsie zu entwickeln. 
Bei unserer Tochter hat sich herausgestellt, dass ihre Form therapieresistent ist, sie hat ein West-Syndrom. Das bedeutet, dass es nicht möglich ist, ihre Anfälle komplett einzudämmen. Eine derart hartnäckige Form der Epilepsie ist jedoch zum Glück eher selten.

In den meisten Fällen sind epileptische Anfälle medikamentös gut zu behandeln. Es gibt eine ganze Reihe von Medikamenten, die zum Teil auf ganz bestimmte Arten epileptischer Anfälle ausgelegt sind. Häufig ist es damit möglich, die Anfälle weitgehend oder gar völlig zu unterdrücken. In den meisten Fällen ist jedoch eine lebenslange Einnahme von Antikonvulsiva notwendig.

Je nach Art des Anfalls spüren manche Betroffenen einen Anfall bereits vorher. Man nennt das auch eine Aura, die jemand hat. In vielen Fällen bemerken die Betroffenen erst hinterher, dass etwas passiert ist, manche Anfälle sind aber auch spürbar. Wenn Betroffene sich nicht verbal äußern können, ist es natürlich schwer bis unmöglich herauszufinden, wie und ob ein Anfall bemerkt und wie er empfunden wird. Für Angehörige von Menschen, die einen epileptischen Anfall erleiden, ist es oft gefühlt genau so schwer, als hätte man selbst den Anfall. Hilflos zusehen zu müssen, wie ein Angehöriger krampft, ist grausam.

Offen gestanden ist die Epilepsie für mich das Schlimmste an der Beeinträchtigung meiner Tochter. Ich werde mich niemals an diese blöden Anfälle gewöhnen können, obwohl ich im Laufe der Jahre eine gewisse Routine entwickelt habe und vergleichsweise stoisch reagieren kann, wenn es wieder mal los geht. Das mag grausam klingen und abgebrüht, ist aber ganz einfach notwendiger Selbstschutz um nicht jedes Mal völlig aufgelöst zu sein. 

Wenn Sie also ein Kind mit einer Diagnose haben, bei der "Epilepsie" als Nebenkriegsschauplatz ein mögliches Szenario sein könnte, macht es Sinn, vorbereitet zu sein. Vorbereitet im Sinne von "ich komm gut klar damit" oder gar "es macht mir nicht viel aus", wird es nicht sein, das muss ich leider sagen. Aber vielleicht fühlen Sie sich beim ersten Mal nicht ganz so hilflos, wenn Sie wissen, dass Sie selbst in der Situation etwas tun können, nämlich zunächst darauf achten, dass Ihr Kind sich nicht verletzt im Anfall und dann einfach ganz aufmerksam sein und sehr gut beobachten, was passiert. Wenn es Ihnen gelingt, besonders geistesgegenwärtig zu sein, zücken Sie Ihr Handy und filmen Sie, was sich abspielt. Das mag voyeuristisch klingen, kann aber helfen, die Anfälle gut einzuordnen. 

Worauf dürfen Sie achten? Wenn Sie merken, dass ein Anfall beginnt oder aber, wenn Sie nicht sicher sind, ob es sich überhaupt um einen Anfall handelt, wenn Sie merken, dass etwas Merkwürdiges beginnt, schauen Sie auf die Uhr und merken sich gut die Zeit. Es ist hilfreich zu wissen, wie lange etwas gedauert hat und ich kann Ihnen versichern, dass Sie die ersten Male kein Zeitgefühl haben werden. Wenn Ihr Kind für 20 Sekunden keine Luft bekommt, wird Ihnen das wie eine Minute vorkommen oder länger. 
Achten Sie darauf, welche Körperteile genau beteiligt sind und was genau passiert. Zuckt nur ein Augenlid oder ein Mundwinkel? Ist der Kopf beteiligt? Was machen die Extremitäten? Tritt Schaum aus dem Mund?  Wie verändert sich die Atmung? Hören Sie Schmatzen? Wie verhalten sich die Augen? Erfolgt am Ende eine Blasen- und/oder Darmentleerung? Wird das Kind blau? Wie ausladend sind die Bewegungen oder sind Köperteile einfach starr? Wechselt sich Bewegung und Starre ab? Achten Sie einfach möglichst auf jedes Detail. Es kann auch wichtig sein, ob nur eine Körperseite betroffen ist und wenn ja welche. 

Wenn es sich um den ersten Anfall handelt, haben Sie möglicherweise noch gar kein Notfallmedikament zu Hause und können gar nicht selbst reagieren. In so einem Fall ist es besonders wichtig, die Uhr und das Kind gut im Blick zu haben. Wann immer Ihr Kind blau wird, greifen Sie zum Telefon und alarmieren Sie den Rettungswagen. Auch wenn ein Anfall fünf Minuten oder gar länger dauert, sollte das Kind schnellstmöglich in einer Klinik vorgestellt werden. 
Wenn es sich nicht um den ersten Anfall handelt, haben Sie im Idealfall sowohl ein Notfallmedikament zu Hause und einen genauen Plan, wann was zu tun ist. Handeln Sie nach dem Plan und nehmen Sie baldmöglichst Kontakt zum behandelnden Arzt auf, damit dieser informiert ist. Dieser Punkt kann im Laufe der Zeit entfallen, wenn Sie eine Situation leben müssen, die unserer ähnlich ist und mehrere Anfälle am Tag leider zur Regel gehören. 

Es gibt leider mehrere Trigger, die für epileptische Anfälle verantwortlich sein können. Zu wenig Schlaf, Infekte, extreme Wetterlagen wie Schneefall, Starkregen, Wind oder Wetterwechsel können Anfälle begünstigen. Traditionell beobachten wir im Herbst und Frühjahr mehr Anfälle, was vermutlich an den häufigen Wetterwechseln und damit schwankendem Luftdruck hängt. Menschen, bei denen die Epilepsie die einzige Diagnose ist und die eigentlich ein normales Leben führen, könnten ebenfalls bei Stress, zu wenig Schlaf, Alkohol- oder Drogenkonsum einen Anfall erleiden. Auch Wachstumsschübe, Impfungen, zu wenig Flüssigkeit, zu große Hitze können Anfälle begünstigen.

Gerade im Wachstum müssen die Medikamente manchmal angepasst werden. Bei schwer einzustellenden Formen der Epilepsie kann es auch erforderlich sein, dass ein Einschleichen und Ausschleichen verschiedener Medikamente notwendig wird. Ich müsste mich schwer konzentrieren, wenn ich die verschiedenen Präparate aufzählen wollte, die bei meiner Tochter im Laufe ihrer fast zwölf Jahre schon angesetzt und wieder abgesetzt wurden, ganz zu schweigen von den Steigerungen der aktuellen Präparate. Das ist leider normal, zwar frustrierend, weil es häufig eben mit verstärkten Anfällen in der Zwischenzeit einher geht, aber bedauerlicherweise nicht zu vermeiden.

Ein Gefühl, auf das ich manche Mama gerne vorbereiten möchte, ist zugegebenermaßen ausgesprochen albern und irrational, wenn man es nüchtern betrachtet. Aber Elternsein und die damit verbundenen Gefühle sind nicht immer rational finde ich. Bei ganz vielen Anfällen habe ich auch heute, nach über elf Jahren, das Gefühl, dass es mein Versagen ist, dass dieser Anfall gerade passiert. Tatsächlich kann ich keinen Anfall verhindern. Es gelingt manchmal einzelne Anfälle zu durchbrechen durch Ablenkung, durch das Drücken verschiedener Punkte am Körper, durch Hocheben etc. aber wirklich verhindern lässt sich natürlich gerade bei einer therapieresistenten Epilepsie, kein Anfall. Dennoch fühlt es sich an, als hätte ich Schuld. Vermutlich resultiert dieses Gefühl aus der Ohnmacht, aus der grenzenlosen Frustration und Hilflosigkeit, wieder und wieder zusehen zu müssen, wie das eigene Kind völlig unkontrollierte Bewegungen über sich ergehen lassen muss, die zum Teil sehr unangenehm und in jedem Fall sicher sehr anstrengend sind. Epilepsie ist genau wie Krebs ein Arschloch - man verzeihe mir die deftige Formulierung.

Was Sie in jedem Fall tun können, ist aufmerksam sein und sich ein gutes Team an Ärzten aufzubauen, die Sie und Ihr Kind gut begleiten. Es ist sehr wichtig, sich ernst genommen zu fühlen. Nie werde ich den ersten Neurologen meiner Tochter vergessen, der das EEG betrachtet hat und meinte, "aktuell sehe ich da nichts, was auf epileptische Anfälle hindeutet. Aber wenn Sie etwas beobachten und überzeugt sind, dass es sich um Anfälle handelt, dann sind das für mich so lange Anfälle, bis ich Ihnen sicher nachweisen kann, dass es keine sind." Für diese Sichtweise bin ich ihm ewig dankbar. Leider hatte ich damals recht und sehr bald war es auch im EEG zu sehen, aber darauf kommt es nicht an.
Unser aktueller Neurologe tickt ganz genau so. Inzwischen haben wir ja die Möglichkeit, Videos zu schicken. Wann immer etwas "merkwürdig" klingt, bittet er uns darum, das möglichst zu filmen und erst dann entscheidet er, wie er das einordnet. Das fühlt sich gut an. Leider weiß ich, dass nicht alle Familien das Glück haben, dass die medizinischen Teams so ticken. Versuchen Sie nach Möglichkeit, Alternativen zu finden und wenn Sie von etwas überzeugt sind, bleiben Sie so lange hartnäckig, bis man Ihnen das Gegenteil wirklich beweisen kann.

Wenn Sie oder Angehörige von Epilepsie betroffen sind, wünsche ich Ihnen viel Kraft und viel Energie und brauchbare Medikamente, die möglichst wenig Nebenwirkungen entfalten und möglichst gut und lange wirksam bleiben. 
November ist der Monat der Epilepsie. "Wenn Dein Kind aufhört zu atmen, während eines Anfalls, wirst Du das auch tun" - (Verfasser unbekannt, Fakt geprüft und für wahr befunden!)

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