Ist irgendwas? - Was soll ich auf diese Frage antworten?

Aufmerksamen Lesern meines Blogs ist aufgefallen, dass es in letzter Zeit sehr ruhig um uns ist. Zwar gibt es immer wieder bebilderte Anregungen für schnelle und leckere Mahlzeiten mit und ohne Sonde, aber längere Beiträge gab es lange nicht. Und ich wurde schon von verschiedenen Seiten gefragt, ob irgendwas nicht stimmen würde. Was soll ich auf diese Frage antworten? Ich bin durch. Ganz einfach durch. Komplett!


Dabei ist es gar nicht mal die körperliche Erschöpfung. Gut, wenn ich wirklich während meiner Arbeitswoche mal zwei oder in Ausnahmefällen auch mal drei Nächte am Stück selbst den Nachtdienst übernehmen muss ohne am nächsten Tag ein paar Stunden schlafen zu können, dann merke ich das inzwischen natürlich. Ich geh straff auf die 50 zu und da steckt man dauerhaften Schlafentzug nicht mehr ganz so gut weg. Aber grundsätzlich gewöhnt sich der Körper an wenig Schlaf. Was es bedeutet, unser Kind zu versorgen, wie belastend das sein kann und wie durchgetaktet unser Leben verläuft, können sich offenbar nur Wenige vorstellen, auch wenn ich das durchaus schon beschrieben hatte (hier klicken)

Es ist vielmehr die mentale Erschöpfung, die inzwischen auch keine Entlastung mehr erfährt. Seit mittlerweile zwölf Jahren lebe ich in kompletter Anspannung, muss permanent flexibel auf sich immer wieder ändernde Gegebenheiten reagieren. Der Pflegenotstand macht sich auf brutale Weise bemerkbar und ohne unsere Termine in einem für Beide online einsehbaren Kalender festzuhalten, wären mein Mann und ich an manchen Tagen stundenlang nicht handlungsfähig. Immer wieder fallen Tagdienste aus oder Schichten können von vornherein gar nicht besetzt werden. So müssen wir immer gut absprechen, wer wann die wichtigsten Termine des Tages hat und wer sich wann um unsere Motte kümmern kann.

"Aber wenn sie dann lächelt, ist doch alles vergessen." - Ein Spruch, den man immer wieder mal hört im Zusammenhang mit totaler Erschöpfung und Kindern. Nein, verdammt nochmal, nein, ist es nicht. Ja, es ist richtig, dass meine Tochter in letzter Zeit wieder häufiger lachen kann. Es ist richtig, dass sie auch Momente hat, in denen sie ganz zufrieden mit der Welt zu sein scheint und in denen es ihr gut geht. Aber das ist leider nur die kleinere Seite einer vielschichtigen Medaille.

Die Wahrheit ist, unsere Motte ist leider insgesamt über weite Strecken ein sehr unzufriedenes Kind, wenn es gilt, etwas anderes zu tun als zu ruhen. Ankleiden, auskleiden, Windelwechsel, Windel nicht schnell genug wechseln, Physiotherapie, Logopädie, waschen, Zähne putzen, duschen, cremen, Positionswechsel - all das kann Schreianfälle auslösen. Und ich spreche nicht davon, dass sie halt mal ein wenig meckert, ich spreche davon, dass sie schreit wie am Spieß. Und dass sie sich wehrt. Wenn sich ein elfjähriges Kind mit vollem Körpereinsatz wehrt, ist das teilweise nicht sehr lustig. Versuchen Sie mal einem Kind die Augen zu säubern, dass brüllend und die Augen zusammenkneifend sich von Ihnen wegdreht und um sich schlägt. Das sind keine Ausnahmefälle, das ist in vielen Phasen die Regel. Über Tage und Wochen und in der Summe über Jahre. Es grenzt an Kindesmisshandlung, was ich betreiben muss, um das Kind mit sauberem Gesicht, mit sauberer Kleidung und gut gepflegt und durchbewegt aus dem Haus zu bringen. 

Nein, das ist nicht schön für mich, ganz im Gegenteil, ich empfinde das als sehr belastend. Egal ob es um die Physiotherapie geht, die ihr an manchen Tagen überhaupt gar nicht passt. Ob es ums Waschen oder Duschen geht, wo ich oft nicht mehr weiß, wie ich es handhaben soll ohne Oktopuseigenschaften, dass sie sich nicht ihren Tube mit gefülltem Ballon und voller Wucht aus dem Bauch zieht. Und manchmal kann ich nicht mal erahnen, woraus ihre Wut und ihr Frust gerade resultiert. Es tut mir unendlich leid für sie, aber es macht auch etwas mit mir.

Seit elf Jahren erfahre ich permanente Unzufriedenheit und Ablehnung von meiner Tochter ohne dass das jemals irgendwie kompensiert werden könnte. Natürlich habe ich gelernt, mich auf die positiven Momente zu konzentrieren, ich nehme sie auch ganz bewusst wahr. Aber Kampfoptimismus, wie er manchmal von mir erwartet zu werden scheint, macht mich inzwischen regelrecht aggressiv. 

Wir haben zwei Mädchen in der Nachbarschaft, Schwestern, die fast immer gut gelaunt sind, wenn ich sie sehe. Vermutlich sehen ihre Eltern das anders als ich, aber es wäre auch nicht normal, wenn es anders wäre. Wenn ich die Mädels sehe, strahlen sie mich an, begrüßen mich freundlich, begrüßen auch unsere Tochter total freundlich, wenn sie dabei ist und wenn sie mich aus der Ferne entdecken, winken sie. Natürlich weiß ich, dass ich solche Reaktionen von meiner Tochter gar nicht erwarten kann. Aber es tut mir weh, dass mich die Nachbarskinder bedeutend freundlicher behandeln als mein eigenes Kind. Meine Tochter kann nichts dafür, ich mache ihr um Gottes Willen deshalb ja keinen Vorwurf. Ich liebe meine Tochter heiß und innig und sie ist das Wichtigste für mich, für sie würde ich alles tun. Dennoch macht dauerhafte Ablehnung etwas mit mir, es lähmt mich, es erschöpft mich und es gibt kaum noch Kompensation.

Meine Erschöpfung kann sich selten erholen durch Erfolgserlebnisse und die äußeren Umstände machen mich ebenso zunehmend wütend. Diese ewigen Anträge, Ablehnungen, dieses ewige Abwägen lege ich einen Widerspruch ein oder lass ich es einfach, es macht mich mürbe. Trotz vieler Anträge, Widersprüche etc. müssen wir so unendlich viel selber zahlen oder eben verzichten. Es ist nicht sonderlich witzig für jeden Mist betteln zu müssen. Natürlich bin ich dankbar für das, was bewilligt wird, aber ich sehe mich zunehmend einer grenzenlosen Verlogenheit ausgesetzt. Inklusion findet in unserem Land tatsächlich nur auf dem Papier statt. Wir Schattenfamilien bilden wirklich in mancher Hinsicht den totalen Rand der Gesellschaft und das macht mich eben wütend, so wütend, dass es mich erschöpft.

Unser Treppenhaus ist seit letztem Jahr um einen hässlichen Treppenlift reicher, den wir zum Glück genehmigt bekamen. Gute 20.000 Euro hat der Einbau gekostet. 4.000 Euro hat die Kasse übernommen für weitere 10.000 Euro wurde ein zinsloser Kredit bewilligt, nachdem wir alles offengelegt hatten bis auf die Schuhgröße meines Großvaters. Den Rest mussten wir selbst aufbringen. 
Ohne Lenk- und Schiebehilfe können wir den Rollstuhl unserer Tochter weder im Winter noch auf etwas unwegsamem Gelände nutzen. Wir wohnen am Land. Es IST unwegsam. Keine Argumentation, weder Praktikabilität noch Teilhabe zogen, um die Kosten dafür voll bewilligt zu bekommen. So zahlen wir also wieder 1.500 Euro selbst. Möglicherweise könnte unsere Tochter lernen, sich mit einem Augensteuerungsgerät verständlich zu machen. Sie hat bewiesen, dass sie das grundsätzlich bedienen kann. Auf Anhieb. Wir waren fast schockiert. Vermutlich ist es den hohen Kontrasten zu verdanken, dass sie auch ohne nennenswerte Sehfähigkeiten zu besitzen, sofort wusste, was zu tun ist. Bis zu 8.000 Euro kostet so ein Gerät. Abgelehnt. Und mir graut schon davor, wenn wir die nächste Größe der Orthesen oder einen größeren Toilettenstuhl oder, oder, oder beantragen müssen, für das Augensteuerungsgerät fehlt mir schlicht die Energie. 

Solche Dinge lähmen mich und die Tatsache, dass ich so oft völlig gelähmt bin, frustriert und erschöpft mich zusätzlich und dann kommt da noch das schlechte Gewissen dazu. Das ist eigentlich immer da. Statt mit meiner Tochter am Nachmittag eine Runde zu kuscheln, so dass wir beide einschlafen, hätte ich durchaus auch auf dem Keil mit ihr üben können. Andere Mütter setzen eine Reha nach der anderen durch, alle möglichen zusätzlichen Therapien, machen Ausflüge, fahren in den Urlaub - allein der Gedanke an die Organisation verursacht Herzrasen bei mir. Und ein schlechtes Gewissen. Vielleicht würde sie sich viel besser entwickeln, wenn ich mehr tun würde. Ich müsste sie viel mehr fördern, vielleicht würde sie dann ganz andere Fähigkeiten entwickeln, eine bessere Lebensqualität erfahren. Aber ich kann nicht. Ich kann einfach nicht mehr. Und so quäle ich mich durch manche Tage, völlig erschöpft und frustriert. Und nebenbei bin ich ja genau wie mein Mann auch noch berufstätig. Von irgendetwas müssen wir ja schließlich leben.

Es ist nicht die eine Situation, die etwas mit mir macht, es ist die Summe an Kleinigkeiten. Und in letzter Zeit waren es gerade durch die Hüft-OP meines Mannes noch ein paar Kleinigkeiten mehr. Was soll ich also auf die Frage antworten "Ist irgendwas?", "Was hast Du denn?" Nichts. Vielleicht ist es genau das. Ich hab keine echte Perspektive, dass es irgendwann mal besser wird. Denn wenn ich eines Tages weniger Belastung empfinden kann, weil ich weniger Erschöpfung erfahre, dann ist das möglicherweise eine Zeit in meinem Leben, in dem unsere Tochter nicht mehr bei uns ist. Besser ist das dann leider auch nicht. Anders. 

Also tut mir leid, wenn ich nicht konkret benennen kann, was los ist. Ich bin durch. Das ist alles. Ich möchte an dieser Stelle bitte auf gar keinen Fall irgendwelche Nachrichten oder Kommentare lesen wie "Ihr macht das alles so toll!", "Du bist die beste Mutter, die sich Eure Hummel wünschen kann", oder irgendetwas in der Art. Ich schreibe das hier nicht, damit mir jemand sagt, dass ich toll bin. Bin ich nicht. Ich bin Mutter meines Kindes und es ist meine verfluchte Aufgabe und auch mein Bedürfnis, mich anständig und so gut es mir möglich ist, mich um mein Kind zu kümmern. Das tue ich auch. Dass ich es nicht mehr in dem Maße schaffe, wie ich möchte, ist etwas anderes. Aber das hatte ich ja nun wortreich erklärt. Bin durch und habe jetzt fertig.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Nicht ganz dicht, oder?

Wenn das Sterben zum Leben gehört

Urlaub im Sternenzelt