24 Stunden mit der Sondenprinzessin

Wir haben festgestellt, dass sich kaum jemand wirklich vorstellen kann, wie unser Leben tagein tagaus so aussieht. Auch wenn wir offen darüber sprechen, was im Laufe eines Tages so nacheinander ansteht, fällt es Außenstehenden schwer, wirklich nachzuvollziehen, was das konkret bedeutet. Daher habe ich beschlossen, x-beliebige 24 Stunden aus dem Leben mit unserer Sondenprinzessin zu skizzieren. Nicht nur für uns sehen Tage so oder so ähnlich aus, auch für andere Eltern besonderer Kinder. Ich möchte ein Bewusstsein schaffen, wie viel anders unsere Tage im Vergleich zu Eltern von typischen Kindern sind und wie viele Gemeinsamkeiten es doch auch gibt.


04:46 Uhr: Der Wecker klingelt. Ich muss mich kurz orientieren - es ist Montag und wir haben einen Nachtdienst. Juhu! Noch ein paar Minuten gemütlich aufwachen und dann ab ins Bad, Zähnchen putzen. Auf dem Weg über den Flur lausche ich. Alles still. Die Prinzessin scheint keinen schlechten Morgen zu haben, ich kann beruhigt in den Keller verschwinden zum Sporteln, die Pflegeschwester kümmert sich um unser Goldstück.

06:15 Uhr: Eine knappe Stunde Sport hat richtig gut getan. Wenn die Woche so beginnt, geht es mir gut. Jetzt flott unter die Dusche hüpfen und für den Tag zurecht machen, das ist jetzt eine Wohltat.

06:40 Uhr: Frisch geduscht, mit einer Portion gefrorenem Mittagessen aus dem Keller stehe ich in der Küche und richte den Kindergartenrucksack. Die Tür geht auf, der Papa kommt angeschlichen. Sieht noch müde aus, der Arme, der hat gestern bis spät in die Nacht gearbeitet. "Oben alles ok, die Maus hatte eine gute Nacht" vermeldet er. Wunderbar, dann gehen die letzten Handgriffe flott. Nochmal kontrollieren: Nahrung, Flüssigkeit, Medis - alles drin. Absauger, Orthesen, Buch muss ich noch schreiben. Schnell rauf und die Schwester nach Details der Nacht fragen und die Maus endlich begrüßen. Derweil bespricht der Papa den Talker. Papa braucht Kaffee. Dringend.

07:05 Uhr: Die Maus ist fertig für den Tag, aber brodelt wie ein Wasserkocher. Wir müssen dringend nochmal absaugen. Jawoll, das war effizient, jetzt grinst sie und schnauft gut.

07:12 Uhr: Mir bleibt es ein ewiges Rätsel, wie die Malteser es schaffen, jeden Tag SO pünktlich zu sein. Gut gelaunt wird die Prinzessin in den Bus gehoben. Sie ist die letzte, die abgeholt wird, zwei andere Fahrgäste helfen mit. Im Laufe der Jahre sind mir die vier Mitfahrer und vor allem das Team der Fahrer richtig ans Herz gewachsen. Immer gut gelaunt, immer freundlich - das tut in der Früh richtig gut.

07:15 Uhr: Die Nachtschwester verabschiedet sich, sie hat sich jetzt eine Mütze Schlaf verdient, wenn sie daheim ist. Ich mach mir schnell mein Müsli, mein Kaffee steht schon parat und ein Stück Zeitung. Ich hab 15 Minuten Zeit.

07:30 Uhr: Im Büro unterm Dach ist es warm, erstmal alle Fenster aufreißen und den PC hochfahren. Mensch, das dauert wieder.... endlich kann ich mich einloggen. Während der Laptop hochfährt, starte ich meinen eigenen Laptop ebenfalls. Falls ich ausdrucken muss. Klingt komisch, ist aber so.

08:10 Uhr: Ein Kollege ruft an und möchte etwas besprechen. Super, das wird länger dauern und braucht keinen PC. Ich kann also nebenher schnell in den Keller gehen und eine Maschine Wäsche anwerfen. Wie gut, dass ich im Homeoffice arbeiten kann. Auf dem Weg nach oben, Abstecher in die Küche, schnell was trinken. Predige ich meinen Kollegen ständig, sollte ich auch nicht vernachlässigen. Bin schließlich die Gesundheitstante in der Arbeit.

12:00 Uhr: Bürotag für heute beendet. Schnell nach unten die Wäsche aufhängen und schauen, was ich mittags essen könnte. Inzwischen kommt der Papa von seinem Termin nach Hause, wir essen schnell gemeinsam zu Mittag, dann such ich ein paar Sachen zusammen und ab gehts in den Kindergarten, die Prinzessin abholen.

13:45 Uhr: Übergabe im Kindergarten. Gott sei Dank, der Tag war gut, die Maus ist gut gelaunt. Dann ab die Post zur Physiotherapie.

14:00 Uhr: So ein Mist, wieder alle Parkplätze vor dem Haus belegt. Ich mach mir den Spaß und steige aus. Keiner hat einen blauen Ausweis drin liegen. Danke auch, Ihr Hirnheimer, jetzt kann ich wieder schauen, wo ich bleibe. Gott sei Dank ist am Krankenhaus noch was frei. Leider der am weitesten entfernte Parkplatz und inzwischen schüttet es wie aus Eimern. Schnell gehen mit der Maus auf dem Arm, dem Rucksack am Rücken und der Handtasche am Gelenk geht schlecht. Mausi meckert, weil es nass ist. Tut mir leid, mein Schatz, die anderen Parkplätze waren belegt.

14:05 Uhr: Unsere Physiotherapeutin freut sich uns zu sehen und der Maus tut die Behandlung sichtlich gut. Sie lacht und lautiert, es ist eine Freude, das zu sehen. Die beiden kennen sich, seitdem unsere Prinzessin sechs Wochen alt war und das merkt man.

15:05 Uhr: Mit frischer Windel, wieder komplett angezogen machen wir uns auf den Rückweg zum Auto. Hoffentlich hat der Regen nachgelassen. Da steht schon der nächste Wagen, der auf unseren Parkplatz wartet. Hm, das wird jetzt ein paar Minuten dauern, bis ich meine Prinzessin gut im Spezialsitz verstaut habe, kann ich leider nicht ändern.

15:10 Uhr: Wir machen uns auf den Heimweg und nutzen die Zeit, mit den Großeltern zu telefonieren. Drei Kurven weiter stelle ich fest, das war heute keine gute Idee, die Maus krampft, ich kann hier nicht halten. "Halt kurz durch Mausi, da vorne gehts. Mama, ich muss Schluss machen". Anfall vorbei, weiter geht es.

15:45 Uhr: Wie praktisch, der Papa erwartet uns schon. "Insgesamt vier Mal musste ich anhalten. Blödes Wetter, die arme Maus krampft die ganze Zeit" bringe ich ihn auf den neuesten Stand. Dass er mit Regenschirm parat steht und sich um Rehabuggy und den Rest unseres Gepäcks kümmert, hilft sehr. Erstmal Windel wechseln und dann sondieren.

15:55 Uhr: Der Papa hat sogar daran gedacht, Tee kalt zu stellen und den Trinkjoghurt aus dem Kühlschrank zu nehmen. Wir können gleich starten. Nach einer intensiven Runde absaugen geht es der Maus wieder gut und sie "erzählt". Übergabebuch liest heute der Papa vor und wir hören vom Talker wie der Tag unserer Maus im Kindergarten so war. Logopädie und Musiktherapie hatte sie, na das ist schön. Dass die Physio heute ausgefallen ist, ist diesmal nicht ganz so schlimm, wir waren ja grad bei der anderen Physio.

16:35 Uhr: Fertig sondiert, jetzt haben wir noch ein wenig Zeit. Worauf könnte die Maus Lust haben? Vielleicht ein wenig Musik machen, da sind die Hände beschäftigt. Ja, das macht ihr Spaß.

17:05 Uhr: Die Prinzessin darf noch eine Runde in ihrer Wohlfühloase Rücken ausstrecken, Elfen jagen und der Musik lauschen während ich noch ein paar Handgriffe Haushalt mache. Der Papa kommt aus dem Büro und kümmert sich schon um Medizin und Abendessen. Fein. Läuft.

17:25 Uhr: Elfen sind aus, also ab ins Kinderzimmer, nochmal gut durchbewegen, vor allem ein wenig Lunge bearbeiten, das hat ja heute gefehlt. Eine Runde Fußreflexzonen behandeln, die Blase, eine gepflegte Kolonmassage und zum Abschluss etwas Yoga, soll ja auch Spaß machen. Noch 50 ml sondieren, Windel frisch machen und dann geht es ab nach unten.

17:55 Uhr: Der Papa hat schon alles vorbereitet zum inhalieren. Auf gehts. Anschließend noch der Cough Assist, Tube entlüften, Säureblocker und Eisen sondieren und ab auf die Rüttelplatte. Das macht Spaß.

18:10 Uhr: Das war jetzt fast ein bissl fies. War doch glatt nach dem Rütteln nochmal die Windel voll. Vom Keller die gut 16 kg nasser Sack, auch bekannt als Sondenprinzessin, bis in den ersten Stock zu hieven, brauch ich auch nicht regelmäßig, meine armen, kaputten Bandscheiben. Jetzt wieder ins Stühlchen setzen und ordentlich absaugen, dann kann es losgehen mit Essen.

18:15 Uhr: Der Trinkversuch klappt heute super. Schön, dass der Papa das Mausekind-Essen schon fertig hatte. Jetzt kümmert er sich ums Abendessen für die Großen, während wir Mädels uns um die Prinzessin kümmern. Trinkversuch beendet, jetzt noch die gesamte Nahrungsergänzung rein in die Flasche und ab durch die Sonde.

18:45 Uhr: Heute muss es schnell gehen, es gibt Teigtaschen, nebenher sondiere ich gemütlich fertig. Der Papa hat es eilig, der hat noch einen Abendtermin. Gemeinderatssitzung in einer anderen Gemeinde.

19:00 Uhr: Der Papa flitzt los während wir noch die Medis sondieren und dann Spritzen spülen. Großer Nachteil: Die Prinzessin hat dabei nicht die ungeteilte Aufmerksamkeit und muss fürchterlich husten. ADH: Aufmerksamkeitsdefizithusten.

19:20 Uhr: Die Küche ist fertig, die Maus nochmal abgesaugt, Wohnzimmer gelüftet, die Rollos schon unten, jetzt geht es ab zum Zähne putzen und waschen. Das wird wieder ein Drama.

19:50 Uhr: Kind ist bettfertig, aber leider völlig außer sich. Heute war das Wasser viel zu nass, die Zahnbürste viel zu borstig, das Öl viel zu ölig und die Haarbürste einfach ein einziger Schmerz. Ach Mausi, wenn ich nur wüsste, wie ich es Dir leichter machen kann. Jetzt liegt sie auf ihrer Couch und wartet einigermaßen geduldig, bis ich alles wieder verräumt und das Bett für die Nacht gerichtet habe.

20:00 Uhr: Die Prinzessin ist am Monitor angeschlossen, hat die Sauerstoffbrille in der Nase und ist für die Nacht gelagert. Wir beten gemeinsam, der Hanno singt ihr Lalelu vor und die Hummel leuchtet Sterne an die Decke. Ich schnapp mir die Kamera mit Babyphone zur Überwachung und verschwinde nochmal nach oben ins Büro. Ich muss noch dringende Mails erledigen.

22:30 Uhr: Der Papa kommt nach Hause, wir treffen uns kurz vor dem Bad, aus dem ich grad Richtung Bett verschwinde. Ich lese noch eine Runde und höre den Schreibtischstuhl im Büro knarren. Meine bessere Hälfte fängt schon mal an, den Termin zu verarbeiten, das dauert sicher länger.

23:00 Uhr: Ein schönes Buch hab ich da zur Zeit, aber jetzt sollte ich eine Mütze Schlaf nehmen, war ein langer Tag, im Büro oben klappern noch die Tasten.

23:46 Uhr: Der Wecker klingelt, ich muss mich kurz orientieren. Klar, inhalieren um Mitternacht ist angesagt. Wecker aus und rüber. Die Prinzessin schläft ganz ruhig, ich sondiere erstmal ein wenig Flüssigkeit. Dann den Inhalator angeschmissen, sie kriegt es kaum mit und lässt sich problemlos drehen und weiter lagern. Blöd, dass die Windel noch nicht voll ist, das heißt wir sehen uns bald nochmal. Egal. Nochmal was sondieren und dann den Inhalator sauber machen. Auf dem Rückweg kontrolliere ich nochmal den Monitor, gute Werte: Sättigung 97 bei einem halben Liter Sauerstoff und die Herzfrequenz schon wieder auf 81, trotz inhalieren. Alles gut, ich geh wieder ins Bett.

01:25 Uhr: Da piept was. Der Monitor! Schnell rüber und schauen, was los ist. Sättigung ist auf 100, die Herzfrequenz auf 124. O je, da kommt ein Anfall. Kaum zwei Minuten später ist er da. Blöd, der ist heftig, das kriegen wir so nicht hin. "Mausi komm mal auf Mamis Arm und versuch zu husten" rate ich ihr. Etwas sechs Minuten später ist wieder alles ok. Anfall ist von alleine sistiert würde jetzt in einem Protokoll stehen. Blöde Epilepsie! Ich werde mich nie an diese Anfälle gewöhnen. Jetzt ist sicher die Windel voll, wie immer nach den Anfällen. Jawoll, das erledigen wir gleich und sondieren nochmal was. Ich dreh die Prinzessin um, lagere sie wieder schön, der Hanno singt wieder, die Hummel macht Sterne an die Decke und die Prinzessin gähnt. Wunderbar, Herzfrequenz sinkt auf unter 90, Sättigung passt wieder. Ich geh wieder schlafen.

02:46 Uhr: Standardmäßig hab ich mir den Wecker auf kurz vor drei gestellt um vorsichtshalber den Monitor zu kontrollieren. Sättigung 98, Herzfrequenz 69. Irre. Vielleicht schau ich mal, ob ich den Sauerstoff runter kitzeln kann? Ich warte fünf Minuten, die Sättigung sinkt nicht unter 97, perfekt, so lassen wir das.

04:25 Uhr: Da war ein Geräusch - Blick auf den Monitor, die Maus ist wach. Wie gemein, kurz vor halb fünf, aber das ist ihre Spezialität. Also schnell rüber, sicher ist die Windel voll. "Na, Du Rübennase, hast Du Dir gemerkt, dass die Mami zuständig ist heute Nacht und hast Dir gedacht, die Alte soll nicht so viel schlafen, wie?" Ich strubbel ihr über den Kopf. Lacht die mich aus oder wie? Na warte, das gibt Rache, Dich kitzel ich. Schnell Windel wechseln und gleich die Temperatur kontrollieren. 36,4 alles gut. Nochmal lagern. "Jetzt ruh Dich noch aus, mein Spatz, der Papi holt Dich dann später. Schlaf noch schön und träum was fröhliches", Hanno singt, Hummel macht die Sterne, ich leg mich nochmal hin. Einfach nur so.

04:46 Uhr: Der Wecker klingelt, jetzt ist es wirklich Zeit zum Aufstehen. Noch einmal "snooze" und dann ab in den Tag. Vor der Badtür Übergabe des Babyphones. "Wie war die Nacht?" fragt der Papa. "Super, nur ein Anfall, sonst alles ok. Vier Uhr fünfundzwanzig sag ich nur. Temperatur 36,4, Windel war voll". Wir grinsen beide, weil wir wissen, was das heißt. Sie hat es wieder getan und mir die letzten zwanzig Minuten Schlaf nicht gegönnt. Ich verschwinde im Bad, der Papa in der Küche und kümmert sich dort um Medis, Tee, Inhalat und später Frühstück für die Maus. Ein neuer Tag beginnt.

24 Stunden an einem x-beliebigen Tag. So sieht bei uns ein ganz normaler, guter Tag aus. Da gab es keine außergewöhnlich anstrengenden oder besonderen Termine, kein Fieber, keine Schmerzen, keine unruhige oder gar schlimme Nacht, keine vergeblichen Versuche, bei irgendeiner Versicherung oder Behörde jemanden zu erreichen, keine niederschmetternden Bescheide, keine außergewöhnlichen Schreiben, die am besten am Vortag schon fertig sein sollten.
So oder so ähnlich sehen unsere Tage aus. Vielleicht versteht jetzt mancher besser, was wir meinen mit unseren engen Zeitfenstern. Vielleicht wird verständlich, warum wir so gut durchgetaktet sind. Es würde nicht gut funktionieren, wenn wir weniger organisiert wären. Wir sind hineingewachsen in diese Tagesabläufe und meistens denken wir nicht darüber nach.
Aber ab und an hadere ich halt doch. Wenn das Gezeter mal wieder zu groß ist bei der Pflege, wenn sich eine Erkrankung an die andere reiht, wenn eine Ablehnung nach der anderen ins Haus flattert, wenn ich wieder warten muss, bis irgendjemand etwas entscheidendes bewilligt hat oder wenigstens reagiert, weil mir die Kraft ausgeht, der Humor und weil wir Eltern einfach nur noch müde sind. Auszeiten für uns, einfach mal tagsüber die Seele baumeln lassen, ist leider so gut wie nie drin. Das ist anstrengend. Jeden Tag schrillt wieder der Wecker und es geht von vorne los. Ganz selbstverständlich und eigentlich gerne. Für unsere Prinzessin.


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