Es tut sich was in Sachen Ernährung über die Sonde.

Am Wochenende hatte ich die Ehre und das Vergnügen, im Rahmen eines Workshops vor medizinischem Fachpersonal ein wenig über Normalkost über die Sonde erzählen zu dürfen. Unser Palliativteam hatte mich dazu eingeladen. Schon im letzten Jahr durfte ich meinen Vortrag im Rahmen einer Fortbildung selbigen Palliativteams halten und wie im letzten Jahr waren auch diesmal interessierte Zuhörer anwesend, die Fragen gestellt haben und für die "Normalkost für die Sonde" in der Tat nicht selbstverständlich ist. Vielen Dank an dieser Stelle für die freundliche Einladung und die Möglichkeit, meine Erfahrungen teilen zu dürfen!

Eigentlich ist es schade, dass "Normalkost für die Sonde" nicht selbstverständlich ist, denn ganz ursprünglich war ganz normale Nahrung, die püriert wurde, auch für Sondenpatienten ganz normal. Aber seitdem die Astronautennahrung erfunden wurde (im Volksmund wird die klassische Sondenkost ja nach wie vor häufig so bezeichnet), die eigentliche Zielgruppe aber nicht überzeugt war und man deshalb nach anderen Abnehmern gesucht hatte, hatte man die eben in Sondenpatienten gefunden. Die Anlage der Magensonden wurde im Laufe der Jahre perfektioniert und auch die Sondennahrung wurde weiterentwickelt. Irgendwann hatte sie sich dann als einzig wahre Ernährung für Patienten mit Sonde durchgesetzt.

Dass viele Patienten unter dieser Sondenkost richtig leiden, ist leider keine Ausnahme, sondern weit verbreitet. Viele Patienten leiden unter Erbrechen, seltener Durchfällen, sehr häufig Verstopfung. Oft gedeihen die Patienten trotz hoher Kalorienzufuhr nicht richtig und irgendwann kommt eine Spirale an weiterer Medizin, an weiteren Eingriffen in Gang, die nüchtern und aus der Ferne betrachtet, schon tragisch ist. Wenn die Patienten spucken, wird zunächst die ganze Palette an verschiedenen Nahrungen ausprobiert, dann wird die Fließrate verringert, denn zu allem Überfluss erfolgt die Ernährung von Sondenpatienten noch über eine Pumpe. Medikamente gegen Übelkeit, Durchfall und vor allem bei Verstopfung finden Anwendung und das nicht zu knapp. Wenn alles nicht hilft, lautet die Empfehlung Fundoplikation und schließlich GJ-Sonde mit einer Dauerernährung über 23 Stunden am Tag. Viele Patienten gedeihen dennoch nicht wie gewünscht. Dass es generell an der Art der Ernährung liegen könnte, wird dabei gar nicht in Frage gestellt.

Dabei ist die klassische Sondenkost genau so zusammengesetzt, wie man es einem oral ernährten Menschen niemals empfehlen würde. Zucker, Stärke und Fett sind oft die Hauptbestandteile, das wäre ungefähr so, als würden wir uns von Pudding, Schokolade und Schweinebraten ernähren. Allein die Vorstellung lässt jetzt sicher einige schaudern.

Angehörige von Sondenpatienten, die mich kontaktieren, weil sie gerne von der Sondenkost loskommen möchten, sind frustriert bis verzweifelt, weil sie sich tatsächlich in einem Strudel befinden, der keine gute Lösung bietet. Selbst wenn die Idee schon mal aufkam, selbst zu kochen und das irgendwie per Sonde zu verabreichen, werden die meisten wieder entmutigt, wenn sie hören, dass das angeblich zu gefährlich ist. Die größten Mythen lauten die Nahrung könnte die Sonde verstopfen, die Sonde ist nicht ausgelegt, Nahrung zuzulassen, das Material könnte damit porös werden und außerdem ist nicht mehr sichergestellt, dass alle Nährwerte verabreicht werden, schließlich ist die Sondenkost allein vollbilanziert. Hm. Letzteres stimmt. Aber warum eigentlich? Wer hat denn festgelegt, dass man sich mit jeder Mahlzeit vollbilanziert ernähren sollte? Ich habe nichts darüber gefunden, im Gegenteil. Keiner von uns ernährt sich mit jeder Mahlzeit vollbilanziert, die Empfehlungen lauten eher vollwertig ausgewogen und abwechslungsreich. Wenn es notwendig wäre, sich vollbilanziert zu ernähren (also alle Makro- und Mikronährstoffe sind in einer Mahlzeit im ausgewogenen Verhältnis vorhanden), gäbe es niemals Emfpehlungen einer Insulintrennkost, einer ketogenen Diät etc.
Aber natürlich gibt es einen mächtigen Industriezweig, der Interesse daran hat, weiterhin möglichst viele Abnehmer für die Sondennahrung zu haben. Für medizinisches Fachpersonal ist das heutzutage so selbstverständlich, dass kaum jemand auf die Idee kommt, diese gängige und empfohlene Praxis überhaupt in Frage zu stellen.

Bislang. Aber es tut sich etwas. Und das ist gut so. Immer mehr Mütter, immer mehr Patienten kommen auf die Idee, es einfach zu versuchen mit der normalen Nahrung über die Sonde. Alle, die den Versuch ernsthaft gewagt haben, sind froh und dankbar, den Schritt gegangen zu sein. Normalität macht sich breit, das gute Gefühl, was ordentliches zu Essen zubereiten zu können, das eigene Kind genau wie den Rest der Familie ernähren zu können und meist passiert innerhalb kürzester Zeit etwas ganz Erstaunliches: Die Patienten hören auf zu erbrechen, die Verdauung normalisiert sich, sie gedeihen wesentlich besser, sind aktiver und tatsächlich gibt es einige Beispiele, in denen Kinder komplett von der Sonde entwöhnt werden konnten. Und große Überraschung: Das Sondenmaterial hält das aus, die Versorgung mit Vitaminen und Mineralstoffen ist genau so gut wie bei den restlichen Familienmitgliedern auch.

In "unserem" Krankenhaus ist unsere Form der Ernährung längst akzeptiert und Familien, die das ausprobieren möchten, werden unterstützt. Die Empfehlung lautet, dass ab einer CH 14 Sonde der Versuch gewagt werden kann, ich weiß allerdings von Müttern, die sogar mit einer CH 6 Nasensonde erfolgreich waren und es funktioniert auch mit einer GJ-Sonde. In diesen beiden Spezialfällen (also NG- und GJ-Sonde) sollten einige, wichtige Dinge Beachtung finden, aber grundsätzlich kann es auch da funktionieren. Generell gilt, die Umstellung auf Normalkost ist umso einfacher, je später im Leben die Sonde gelegt werden musste. Bei Erwachsenen ist es noch einfacher als bei Kindern und wenn die Patienten sich noch äußern können, ist es nachgerade perfekt.

Es ist schön zu sehen, dass das Interesse wächst, Sondenpatienten wieder mit ordentlicher Nahrung zu versorgen, dass man sich Gedanken macht wie es funktioniert, was funktioniert und worauf man achten muss. Meine Vision ist, dass eines Tages jeder Mensch, unabhängig auf welchem Weg er oder sie die Nahrung zu sich nimmt, normale Nahrung zu sich nehmen darf und nicht irgendeine künstliche Plörre, mit der er oder sie sich im schlimmsten Fall vielleicht nicht mal wohl fühlt. Echte Nahrung für echte Menschen - oder so ähnlich.

Wer die Umstellung versuchen möchte und nicht genau weiß, wie und wo am besten anfangen, bitte einfach melden. Ich schicke nach dem Erstkontakt gerne einen kurzen Fragebogen zu, damit wir schneller mit der Umstellung starten können. Und dann hoffe ich, dass sich auch ganz schnell bei jedem einzelnen Sondenpatienten etwas tut in Sachen Ernährung über die Sonde.

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