Ein Schutzengel mehr

Wer uns besser kennt oder unseren Weg hier schon länger verfolgt, wird wissen, dass wir mit anderen Eltern vernetzt sind, deren Kinder auch das Miller-Dieker-Syndrom haben wie unsere Tochter. Es gibt eine Gruppe mit Mitgliedern auf der ganzen Welt, der Austausch ist zum Teil rege, sehr freundlich und überaus hilfreich. Mit manchen Eltern hat man mehr Kontakt, auch außerhalb der Gruppe und manche Kinder wachsen einem im Laufe der Jahre besonders ans Herz. So ist es auch mit einem kleinen Jungen aus den USA. Dank Zeitverschiebung können seine Mama und ich ab und an chatten, wenn ich selber "Nachtdienst" habe und mich eine Weile wach halten möchte, um Vitalwerte unserer Hummel zu kontrollieren. In der Nacht von Montag auf Dienstag war es so. Wir Mamas haben gescherzt, versucht positive Stimmung gegenseitig zu verbreiten, wobei ich eindeutig in der wesentlich besseren Position war, denn der arme Bub war im Krankenhaus, sollte eigentlich in den nächsten Tagen entlassen werden und hatte einen Rückfall. Am Vormittag hatte ich mit der Mama nochmal Kontakt, jede Menge Galgenhumor wechselte die Seiten und vier Stunden später bekomme ich die Nachricht, er ist tot. Einfach so. Eingeschlafen.

Es war ein Schock für mich und meine Trauer ist groß. Wahrscheinlich kann das nicht jeder nachvollziehen, wie man echte Trauer empfinden kann für einen Menschen, den man nie persönlich kennengelernt hat. Aber für Mütter besonderer Kinder finden soziale Kontakte ohnehin in der Hauptsache virtuell statt. Wir haben irgendwann nicht mehr viele "echte" Freunde im realen Leben, mit denen wir uns wirklich treffen und austauschen. Zumindest gilt das von Müttern von medizinisch sehr komplexen Kindern. Verabredungen müssen wir so oft absagen, dass wir irgendwann kaum noch welche treffen. Mir macht das selten etwas aus, man gewöhnt sich dran. Und ich bin froh, dass es die Möglichkeit gibt, über Facebook, WhatsApp oder Mail Kontakt zu Menschen zu halten, die einem wichtig sind und möglicherweise auch neue Menschen kennen zu lernen - also wenigstens virtuell.

Ich "spreche" oft häufiger mit anderen Mamas über ein soziales Netzwerk, als ich mit meiner besten Freundin rede und ich empfinde es inzwischen als völlig normal. Und so kommt es eben, dass mir Menschen sehr ans Herz wachsen. So wie dieser kleine Junge und seine Eltern. Plötzlich lebt er nicht mehr. Neben dem Schock darüber, dass es so unverschämt schnell ging und der unendlichen Traurigkeit für die Eltern, die nun plötzlich ohne ihr Kind leben müssen, schleicht sich natürlich der Gedanke ein "und wann ist es bei uns so weit? Wann sind wir dran? Sind wir die nächsten?" Ich hab an diesem Abend meine Hummel besonders feste gedrückt und ich bin froh, dass wir an dem Tag noch nicht an der Reihe waren. Angst davor, wenn es eines Tages so weit ist, habe ich nicht mehr, aber die Traurigkeit, die mich dann überfallen wird, vermag ich mir nicht vorzustellen.

Eine Kerze haben wir für unseren kleinen Freund angezündet. Die hab ich mal selbst gebastelt und irgendwie kommt die jetzt immer zum Einsatz, wenn jemand verstorben ist und wir so gedenken möchten. In diesem Jahr hat sie leider schon häufiger gebrannt. Zu oft um es ehrlich zu sagen. Wir haben zu viele Kinder verloren in diesem Jahr, zu viele Menschen, die uns nah waren, Verluste, die auch vor der eigenen Familie nicht Halt gemacht haben.

In den USA hat offenbar die Vorstellung sich durchgesetzt, dass jedes verstorbene Kind ein kleiner Engel ist, der ab sofort als Schutzengel über all jene wacht, die noch auf Erden sind. Ein kleiner Engel, der endlich all das tun kann, was ihm auf Erden verwehrt blieb. Tröstlich finde ich das und irgendwie schön. Vielleicht schauen ja einige von unseren Engelchen, die wir alle viel zu früh von dieser Welt ziehen lassen mussten, auch auf uns herab und sind nun Schutzengelchen für unsere Hummel. Der Gedanke ist wundervoll und ich wünsche mir, dass es so ist.

So ruhe denn in Frieden, kleiner Schutzengel und tu all das, was Du hier auf Erden nicht konntest. Sing ganz laut und musiziere. Wähl das coolste Instrument aus. Schnauf ganz tief und hau rein, worauf Du Appetit hast. Wir werden Dich genauso wenig vergessen wie all die anderen Engelchen, die wir viel zu früh verloren haben. Ich finde es immer wieder unfassbar, dass die Welt sich weiter dreht, dass das Leben weiter geht und der Alltag kein bissl Halt macht, wenn jemand von uns geht. Aber irgendwie ist es auch tröstlich. Leb wohl, Engelchen, bis irgendwann und danke, dass Du mit Sicherheit gut auf unsere Hummel acht gibst!

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