Dankbar sein bedeutet nicht, dass alles gut ist.

Bevor ich diesen Post beginne, möchte ich betonen, dass ich mein Kind heiß und innig liebe. Meine Tochter ist das Wertvollste und Wichtigste, was ich habe.
Ich möchte mit diesem Post auch niemanden verletzen, auch wenn ich weiß, dass sich der eine oder andere auf den Schlips getreten fühlt.
Ich erwarte keine Reaktionen, ich erwarte kein Verständnis, auch nicht, dass jemand nachvollziehen kann, was ich da so von mir gebe. Ich möchte einfach, dass bekannt ist, wie ich manche Dinge und Situationen empfinde um zu erklären, warum ich manchmal so reagiere, wie ich reagiere. Das kann völlig unkommentiert für sich stehen. Einfach so, damit es gesagt ist. Es ist mir schlichtweg ein Bedürfnis.

Mit diesem Schnapschuss ist es mir geglückt, ein Lächeln meiner Prinzessin einzufangen. Es ist kein sonderlich gutes Bild geworden, aber das leichte Lächeln macht es wertvoll für mich. Ich bin dankbar dafür, wie für jedes Lächeln, das sie mir schenkt. Es ist nämlich leider nicht mehr selbstverständlich. Auf solche guten Momente lege ich meinen Fokus, wenn ich kann und diese Augenblicke versuche ich bestmöglich wertzuschätzen. Sie sind selten geworden diese Momente.

Wir haben keine guten "Tage" mehr, wir haben nur noch gute "Momente", wenn es hoch kommt ein paar davon am Tag. Nicht mal gute Stunden erlebe ich mehr. Das geht schon lange so, bestimmt ein Jahr lang und wird immer drastischer. "Heute geht es gut", konnte ich schon lange nicht mehr mit voller Überzeugung sagen, denn ich kann mich tatsächlich spontan nicht erinnern, wann wir zuletzt 24 völlig unbeschwerte Stunden erlebt haben.

Das Schnaufen und Schlucken wird immer schwieriger. Wenn unsere Prinzessin überhaupt mal richtig wach ist, kämpft sie mit irgendwas. Natürlich versuchen wir ihr so gut wie möglich zu helfen, ihr die Atmung zu erleichtern, die Schmerzen zu nehmen, immer und immer wieder, bis zur Selbstaufgabe. Es kann nur noch Linderung sein, keine echte Hilfe mehr.

Ich kann mich nicht erinnern, wann ich mein Kind zuletzt über einen längeren Zeitraum fröhlich und ganz zufrieden erlebt habe, wach und aufmerksam zugleich. Es muss länger her sein, ich erlebe nur noch kurze Phasen davon. Für die bin ich dankbar, die halte ich fest und die zeige ich der Welt, damit jeder Anteil haben kann an dieser kurzen Freude. Vermutlich entsteht dadurch der Eindruck, unser Leben sähe immer so aus. Mitnichten. Ich will mal ehrlich sein: Mein Leben ist beschissen und ich hasse dieses beschissene Leben aus tiefstem, inneren Herzen. Ich weiß schon, das klingt jetzt hart und undankbar, aber es ist ganz einfach ehrlich.
Sicher kenne ich die schöne Geschichte, in der jemand dringend nach Italien reisen möchte und dann in Holland landet und klar, Holland ist auch schön, der Käse dort lecker und die Menschen freundlich. Aber ganz ehrlich, behaupten zu wollen, dass jemand, der dringend nach Italien möchte, sich Holland so schön reden kann, dass er dort unbeschwert glücklich wird und nie etwas Entscheidendes vermisst, ist ganz einfach naiv. Es wirkt auf mich ein wenig so, als wollte ich einem Kampfveganer erzählen "Du, tut mir leid, die Tofuwürstchen sind alle, aber die Geflügelwiener sind lecker" und mich dann wundern, dass er rasend wird vor Zorn. Thema verfehlt würde hier jeder akzeptieren, aber wenn man ein besonderes Kind hat, dann muss man dankbar sein für Holland. Warum eigentlich?

Warum darf ich nicht sagen, dass ich es viel lieber hätte, wenn meine Tochter sprechen könnte. Denn nein, ich weiß tatsächlich nicht, ob sie mich liebt, ob sie gut findet, was ich  mit ihr mache. Ich kann nur raten und interpretieren. Und ich hatte Deutsch Leistungskurs: Glaube keiner Interpretation, die Du nicht selbst manipuliert hast.
Warum darf ich nicht dazu stehen, dass ich es beschissen finde, dass sie nicht selbst essen und trinken kann? Natürlich komme ich gut mit der Sonde zurecht. So gut, dass ich inzwischen vor Menschen, die einen Unterschied machen können, von meinen Erfahrungen erzählen darf und das möglicherweise mehrfach. Ich darf andere Mamas dabei unterstützen, ihre Kinder ebenfalls mit ordentlicher Nahrung über die Sonde zu versorgen. Das ist wundervoll und ich bin dankbar für jedes Kind, das wir gut umstellen können. Aber es wäre wesentlich schöner, wenn meine Tochter einfach essen und trinken könnte, wenn ich ihr eine Flasche Wasser, von mir aus auch ungesunde Limo und eine Breze in die Hand drücken könnte und nicht für jeden Termin überlegen müsste, wann und wo ich die nächste Mahlzeit sondieren könnte mit welchem Zeitabstand zur Autofahrt, damit sie möglichst nicht spuckt.
Darf ich nicht in die Welt schreien, dass ich diese Epilepsie hasse? Diese beschissenen Anfälle, die mich hilflos daneben stehen lassen, nie wissend wie der Anfall endet, die immer und immer wieder dieses "Sie wissen aber schon, dass Ihr Kind jederzeit bei einem Anfall sterben könnte" in meinem Hinterkopf hochschießen lassen. Ich muss mein Kind vollpumpen mit Medikamenten und dennoch sehen wir Anfälle. Täglich. Mehrfach. Auch wenn der Umgang damit routiniert wirkt und ich nicht jedes Mal einem Herzinfarkt nahe bin, werde ich mich niemals daran gewöhnen. Ich hasse sie diese Anfälle. Jeden einzelnen davon.

Nein, ich glaube nicht daran, dass Gott uns nur so viel aufgibt, wie wir tragen können. Wenn dem so wäre, müsste der Gute mal zum Augenarzt. Ich bin nämlich schon lange am Ende und wenn er das nicht sehen würde, wäre er so blind wie mein Kind.
Ich halte auch nichts von dem dämlichen Satz, dass nur besondere Eltern besondere Kinder bekommen. Ich hoffe nicht, dass der Knabe so zynisch ist, da oben auf seiner Wolke zu sitzen und zu entscheiden, dass ausgerechnet ich ein besonders schwerst-mehrfach behindertes Kind verdiene, weil ich so eine besonders vorbildliche Schwangere war und das Kind es bei mir besonders gut haben wird. Wenn er so zynisch ist, kann er mich kennenlernen, wenn ich ihn treffe. Was für ein Schwachsinn! Besonders gesegnet würde ich mich fühlen, wenn mein Kind ein unbeschwertes Leben haben dürfte, aber nicht so.

Doch, ich bin dankbar für Kleinigkeiten. Dankbar, wenn sie mal einen Tag nicht spuckt, wenn wir nicht so viele Anfälle sehen, wenn sie mehr als einmal lachen kann, wenn sie nicht stundenlang jammern muss wie ein Hundewelpen, dem man auf den Schwanz tritt. Wenn sie nicht wieder mal durchdreht über eine halbe Stunde und länger. Und nein, das ist nichts, was alle Eltern erleben, auch wenn viele Menschen das meinen. Vielleicht ein sprachliches Problem. Während der Angelsachse unterscheidet zwischen jemandem, der "a temper tantrum" hat oder "someone throwing a fit" und einem "meltdown", was dem Durchdrehen meines Kindes entspricht, kennen wir im Deutschen nur einen Wutausbruch. Woran das liegt, vermag ich nicht zu beurteilen. Vielleicht damit nicht ist, was nicht sein sollte, was unangenehm ist? Vielleicht sind wir ja eine Nation, in der Probleme möglichst klein geredet werden, um hoffentlich gar nicht zu existieren oder bald zu verschwinden? Keine Ahnung.

Wann immer ich klage, habe ich den Eindruck, dass ich mein Leben am besten klein reden sollte, schön reden, weil ich doch eigentlich alles im Griff habe. Klar hab ich das. Ich bin relativ diszipliniert und habe das unschätzbare Glück, einen Mann zu haben, dem Disziplin ebenfalls wichtig ist. Anders würde es nicht funktionieren. Ich bin diszipliniert und stur und wie ich bei unserem Gesundheitstag erfahren habe, offenbar auch reichlich resilient. Das heißt aber nicht, dass ich stolz bin auf das, was ich jeden Tag leiste. Es ist eine Menge, aber stolz wäre ich, wenn ich das alles unbeschwert und fröhlich erledigen könnte, aus dem Ei gepellt und leichtfüßig. Stattdessen quäle ich mich zu jedem Handgriff. Die tägliche Physio mit meinem Kind hasse ich aus tiefster Seele. Ich mach es, weil es notwendig ist, natürlich, aber immer häufiger laufen die Tränen in Sturzbächen dabei. Die Tränen laufen überhaupt sehr häufig und ich kann die Tage nicht mehr zählen, an denen ich mich in den Schlaf weine.

Natürlich bin ich dankbar für jedes einzelne Hilfsmittel, dass wir uns erkämpft haben, weil es den Pflegealltag leichter macht, aber es ist traurig, dass wir es brauchen. Natürlich bin ich dankbar, dass unsere Prinzessin wächst und gedeiht, aber nein, ich bin nicht dankbar dafür, dass die Pampers nicht mehr passen. Denn das bedeutet, dass wir nicht einfach mal schnell in den Drogeriemarkt unseres Vertrauens gehen können um eine Packung zu kaufen, sondern dass alles geplant und rechtzeitig bestellt werden muss um Lieferverzögerungen und Postlaufzeiten zu berücksichtigen. Und wenn es uns so zielsicher wie geschehen gelingt, ausgerechnet das Modell Windel zu wählen, das vom Deutschen Markt genommen wurde, dann geht die Suche von vorne los und die ist kein Vergnügen. Was an Inkontinenzartikeln angeboten wird, ist schlichtweg menschenunwürdig, aber ich muss natürlich dankbar sein, dass es überhaupt sowas gibt.

Ich mag mich nicht sonderlich. Ich mag nicht wie ich aussehe, weil ich viel zu fett bin. Ich weiß warum ich so aussehe, wie ich aussehe. Mit einem gesunden Kind würde ich sicher trotz Lipödem keine 20 Kilo zu viel mit mir rumschleppen, weil ich viel weniger Schokolade, viel weniger Alkohol bräuchte, um meinen Schmerz zu betäuben und viel kleinere Portionen reichen würden um mir so etwas wie Wohlbefinden zu vermitteln. Ich könnte Sport machen, richtig ernsthaft Sport und das noch regelmäßig und müsste nicht diszipliniert um fünf in der Früh die Gelegenheit der Nachtdienste nutzen.

Ich mag die Antriebslosigkeit nicht, die mich immer wieder befällt, die dafür sorgt, dass ich mich in unseren vier Wänden vor lauter Dreck, den Gott sei Dank nur ich überall sehe, nicht mehr wohlfühle. Aber natürlich werde ich weiter kämpfen, weiterhin versuchen alles so gut wie möglich zu tun. Ich bin dankbar, dass ich eins der stärksten, tapfersten Mädchen auf diesem Erdball meine Tochter nennen darf, aber es tut mir in der Seele weh, dass sie es so schwer hat und wir Eltern auch.
Ich bin dankbar, dass sie ihre Lebenserwartung schon so sehr übertrifft, aber es macht mich wütend, dass sie so oft so arg leiden muss an Schmerzen, die wir nicht deuten und an irgendetwas festmachen können. Sie sitzt grad neben mir, lächelt und lautiert. Dafür bin ich unendlich dankbar. Aber nur weil ich in der Lage bin, noch dankbar für etwas zu sein, heißt das nicht, dass alles gut ist. Tut mir leid!

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