Hat man "das" vorher nicht gewusst? Hätte man da nichts machen können?

Als Mutter einer schwerbehinderten Tochter musste ich mir die Frage schon oft stellen lassen. Es ist ja nicht so, als ginge das eigentlich niemanden etwas an. Wenn man sich erlaubt, sein schwerbehindertes Kind in der Öffentlichkeit zu zeigen und nicht konsequent im Keller versteckt, ist das aber offenbar Einladung genug für manche Mitmenschen, solche Fragen sehr offen zu stellen. Wer mich kennt und wer mir schon länger folgt, weiß, dass ich grundsätzlich allen Fragen gegenüber offen bin. Diese Art der Fragestellung finde ich jedoch grenzwertig, weil übergriffig.

Aber ich beantworte diese Frage sogar in den meisten Fällen und in den allermeisten Fällen sogar sehr gerne sehr ausführlich, dann wirds nämlich beim Gegenüber oft etwas still und das ist offen gestanden, ein wenig Genugtuung für mich. 

Man darf wissen, dass eine Lissenzephalie nicht gleich so früh erkennbar ist, wie beispielsweise ein Down-Syndrom. In unserem Fall galt ich wegen einer vorhergegangenen Fehlgeburt und meines Alters (ich war bereits über 35) als Risikoschwangere, daher wurden mir sämtliche Untersuchungen angeboten, die es gibt. Da meine Fehlgeburt ein traumatisches Erlebnis war, wollte ich sicher gehen, dass ich nichts übersehe und hab die gesamte Palette der Pränataldiagnostik auch gerne ausgeschöpft. Meine Idee war, wenn ein Problem erkannt wird, kann man nach der Geburt sofort handeln und verliert keine Zeit durch Übersehen oder aufwändige Diagnostik. Naiv, ich gebe es zu, aber damals wusste ich es noch nicht besser.

Verdachtsmomente gab es dann auch schon recht bald, so um die zwanzigste Woche. Da war erst der Oberschenkelknochen zu kurz, das könnte ein Down-Syndrom sein, erklärte man uns. Bereits da wurde uns eine Fruchtwasseruntersuchung angeboten. Hab ich abgelehnt, war mir zu riskant. Außerdem, was sollte das für Konsequenzen haben? Für mich war ein Down-Syndrom jetzt nicht grad Grund zur Freude, aber mei, das Herz war völlig ok, das war meine erste Sorge, alles andere kriegen wir schon irgendwie hin. Der nächste Verdacht war eine Balkenagenesie. Ist so ein bissl wie Russisch-Roulette: Kann alles und nichts sein. Das war schon eher doof, aber hey - Frühförderstelle, Montessorischule, zur Not auch eine Förderschule. Kriegen wir schon irgendwie hin. Dann kam es dicke, der nächste Verdacht war eine Trisomie 18 und der Zusatz "nicht lebensfähig" kam aus dem Munde des Pränataldiagnostikers wie ein Peitschenhieb. Und jetzt?

An der Stelle hat meine Gynäkologin dann doch mal eine Fruchtwasseruntersuchung empfohlen, weil man in dem Beispiel doch gerne wissen möchte, was auf die Geburt zukommt und die Zeit davor. Außerdem wollte sie gerne, dass wir uns darauf vorbereiten, dass wir uns von unserem Kind sehr schnell verabschieden müssen, weil in den allermeisten Fällen ein Kind mit Trisomie 18 nur wenige Tage oder Wochen lebt. Die Frage war also verabschieden wir uns vorher oder begleiten wir das Kind palliativ und verabschieden uns nachher. Das schien mir die logischere Variante. Bis zu dem Zeitpunkt war mir gar nicht bewusst, dass man sich ab Geburt auch palliativ begleiten lassen kann. Ich stand zwar insgesamt in diesen Tagen komplett unter Schock, aber das fand ich doch irgendwie schaurig schön und auf besondere Art auch tröstlich. Na gut, dann also Fruchtwasseruntersuchung.

Die lief jetzt auch nicht ganz so klasse, wie man sich das vorstellt, da kam nämlich nix raus. Also keine Trisomie. Aber irgendwas schien nicht zu stimmen. Immerhin wussten wir jetzt sicher, dass wir ein Mädchen erwarten. Eine Katharina. Und dieses Kind war extrem aktiv. Sie ist in meinem Bauch rumgewirbelt, genug Platz hatte sie, da ich zu viel Fruchtwasser hatte. Eine erneute Untersuchung beim Pränataldiagnostiker, übrigens Degum 1, also schon fit, ergab dann das, was sich tatsächlich nach der Geburt bewahrheitete: Miller-Dieker-Lissenzephalie und die Empfehlung zum Spätabbruch. Ein fetales MRT war ohne unser Wissen bereits organisiert, die Ethikkommission hätte noch zustimmen müssen, wäre in München aber in dem Beispiel scheinbar reine Formsache gewesen. Zu dem Zeitpunkt wäre ich etwa in der 34. Schwangerschaftswoche gewesen. Uff! 

Wenn ich also auf die Frage "hat man das nicht vorher gewusst" meine verkürzte Antwort "es gab verschiedene Verdachtsmomente, so um die 34. Woche hätte ich eine Abreibumg vornehmen können" bringe, greifen sich die meisten Frauen, die bereits Kinder zur Welt gebracht haben, interessanterweise reflexartig an den Bauch. "Aber das geht doch gar nicht, das kann man doch gar nicht mehr zu dem Zeitpunkt!" ist die Antwort, die ich in 98% aller Fälle bekomme. Die Menschen realisieren sehr wohl, dass Frühgeborene ab der 24. Woche bereits eine realistische Überlebenschance haben und wer sich etwas näher mit dem Thema befasst hat, weiß, dass ein Spätabbruch in diesem Stadium durchaus unappetitlich werden kann.

Nun mag man sich wundern, warum das erst so spät aufgefallen ist. Ganz einfach, weil sich Gehirnwindungen frühestens so um die 25. bis 27. Woche ausbilden. Davor kann man es ganz einfach noch gar nicht sehen. Jetzt lasst das mal sacken. Lasst das vor allem unter dem Hintergrund sacken, dass es aktuell auch in den sozialen Netzwerken wohl sein darf, dass man ganz selbstverständlich davon spricht, dass man ein behindertes Kind natürlich abtreiben kann. Vor allem, wenn man "mit sowas" selbst nicht umgehen kann.

Ich weiß, dass es einige Menschen gibt, die vorzugsweise hinter meinem Rücken, ihr Unverständnis darüber äußern, dass ich trotz des großen Verdachts und der späten Möglichkeit des Abbruchs keinen Gebrauch davon gemacht habe, sondern mein Kind "trotzdem" zur Welt gebracht habe. Dass unsere Tochter leider nicht nur einmal gute Gelegenheiten gehabt hätte, die Welt wieder zu verlassen, ist Fakt. Dass sie immer noch lebt, ist allein ihrem Lebenswillen zuzuschreiben und den respektiere ich nunmal bereits ab ihrer Geburt. Wer bin ich auch, über das Leben eines anderen Menschen zu richten?! 
Einmal ist es mir sogar offen ins Gesicht gesagt worden: "Das hätte ich meinem Kind nicht angetan, dass es so leiden muss". 

Danke fürs Gespräch und ich drücke ganz, ganz feste die Daumen, dass DEIN Kind diesen Satz niemals hört. Warum? Nun, Ihr Schwangeren, da draußen, die Ihr glaubt, munter aussortieren zu können. Seid Ihr Euch eigentlich dessen bewusst, das es zig Erkrankungen gibt, die vorab gar nicht erkennbar sind? Seid Ihr Euch dessen bewusst, dass viele Erkrankungen sich erst im Laufe des Lebens zeigen? Ist Euch eigentlich die Zahl derer bekannt, die während der Geburt massive Geburtsschäden erleiden und oftmals noch schwerer beeinträchtigt sind als mein Kind? Nein? Ist Euch nicht bewusst? Dann drück ich feste die Daumen für Eure Geburt, vor allem in der heutigen Zeit des Pflegekräfte- und Hebammenmangels. Alles Gute für Euch! Weil, was macht Ihr denn, wenn Euer Kind dann schwerbehindert zur Welt kommt? Ihr könnt das ja laut eigener Aussage nicht. Ins Heim damit? Strangulieren? Was schwebt Euch vor? Ich bin grausam? Nein, ich bin nur einfach brutal ehrlich.

Und Ihr, die Ihr bereits Kinder habt: Auch für Euch toi, toi, toi! Warum ich das sage? Seid Ihr Euch nicht dessen bewusst, wie viele behinderte Kinder es gibt, die erst später durch Unfälle oder Erkrankungen ihre Behinderung "erworben" haben? Was glaubt Ihr, wie viele Ertrinkungsunfälle, Verkehrsunfälle oder beispielsweise Masern und andere ansteckende Erkrankungen jährlich dazu führen, dass Kinder schwerbehindert werden? Was, wenn es Euren Kindern passiert? Gleiche Frage wie bei den Schwangeren: Schaltet Ihr dann eigenhändig Maschinen aus oder sorgt anderweitig dafür, dass das Kind stirbt? Weil laut eigener Aussage könnt Ihr "das" ja nicht.

Vielleicht ist das dann auch Euer Weg und Ihr verabschiedet Euch von Eurem Kind. Wie auch immer. Aber besitzt doch bitte nicht die Unverschämtheit, das als "normal" anzusehen und unterschwellig auch von anderen zu erwarten, dass sie das genau so sehen. Im Umkehrschluss bedeutet Eure Ansicht nämlich, dass wir pflegenden Eltern selber Schuld sind an unserer Situation und nicht ständig jammern sollten. Wir hätten ja nur alle Untersuchungen und dann halt gefälligst die Abtreibung in Angriff nehmen sollen. Ist es das, was Ihr uns eigentlich mitteilen möchtet? Dann habt doch auch bitte den Popo in der Hose, genau DAS auch zu sagen und nicht wieder ein einlenkendes "ich könnte das nicht, Ihr seid ja so toll, wie Ihr das macht" rauszuhauen. Kind behindert, also Abtreibung und Schluss. Das ist es, was Euch vorschwebt? Das ist es, was "man machen" könnte/sollte?

So einfach funktioniert Leben aber nicht, Ihr armseligen Hirne! Wie menschenverachtend, ableistisch und empathielos kann man eigentlich sein?! Und dann wegen einiger Klickzahlen als Influenzer solche Parolen raushauen. Schämt Euch!

Schaut Euch meine Tochter an und urteilt selbst, ob sie wirklich niemals nicht einen Funken Lebensqualität empfindet und deshalb KEIN Recht auf ihr Leben hat. Meine Entscheidung, sie selbst entscheiden zu lassen, ob sie leben möchte oder nicht, bereue ich nicht, trotz allem nicht!

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