"Wenn Du mein Ernährungsprotokoll siehst, denkst Du bestimmt ganz schlecht von mir"

Diese Aussage habe ich tatsächlich von einer Klientin genau so schon gehört und ich war offen gestanden ein wenig verblüfft und musste natürlich nachfragen, woher die Idee kommt. Es stellte sich heraus, dass meine Klientin davon ausging, dass ich mich als Ernährungsberaterin immer perfekt ernähre und automatisch entsetzt reagiere, wenn ich zu viel Schokolade im Protokoll entdecke und unterstelle, die betreffende Person hätte nicht genügend Disziplin und wäre an ihrem hohes Gewicht, von dem sie eigentlich herunter kommen möchte, halt einfach selbst schuld und müsste einfach nur weniger essen und gut wäre es. Warum mich das fast schon schockiert hat? Weil ich keine Ahnung habe, wie jemand darauf kommt, dass ich mich immer perfekt ernähre. Ich meine - guckt mal:


Das bin ich mit meiner brandneuen Frisur und tatsächlich war ich bei meiner letzten Haarspende vor ein paar Jahren noch deutlich stämmiger, aber wirklich dünn kann man meine Statur auch nicht bezeichnen. Und nein, ich fühle mich nicht ganz wohl damit, noch immer ein paar Pfunde zu viel auf den Rippen zu haben, aber ich sehe momentan keine Möglichkeit, meine Situation zu optimieren. Ich bin berufstätige Mama einer schwerst mehrfach behinderten Tochter mit Pflegegrad 5 für deren Pflege wir Unterstützung eines Kinderintensivpflegedienstes brauchen. Immer wieder fallen natürlich Pflegestunden aus, die mein ebenfalls berufstätiger Mann und ich irgendwie auch noch auffangen müssen. Wir müssen also ständig flexibel sein und gut jonglieren, damit wir unsere Aufgaben gut verteilt erledigen können und die Pflege unserer Tochter sicherstellen können. So wie uns geht es vielen Eltern in Schattenfamilien und auch pflegenden Angehörigen von Erwachsenen. Ganz ehrlich - ohne mein Bierchen, meinen Wein und meine Schoki ab und an würde ich dieses Leben gar nicht ertragen. Dabei konsumiere ich das Zeug nicht, weil die B-Vitamine aus dem Bier so gesund sind, sondern weil ich zu den klassischen emotionalen Essern gehöre. An dem Punkt werden sich jetzt sicher viele Menschen angesprochen fühlen.

In den meisten Fällen, in denen jemand sein Gewicht optimieren möchte, geht es nicht darum, dass derjenige einfach ungesund isst, ganz im Gegenteil, häufig entsprechen einfach die Mengen nicht dem eigentlichen Bedarf. Und die Gruppe der "Extras" wird oft gewaltig aufgebläht. Wir essen, weil wir ein Gefühl heraufbeschwören möchten. Die Buttercremetorte gab es vielleicht früher bei der Oma, wenn die ganze Familie zusammen kam, alle gemeinsam fröhliche Zeit verbracht haben und an dieses wohlige Gefühl und die in die Torte gebackene Liebe der Großmutter möchten wir anknüpfen, wenn wir uns ein großes Tortenstück reinziehen. Natürlich ersetzt die dritte Rippe Schokolade nicht das Lob der Eltern nach einer guten Schulnote und die Gummibärchen umarmen uns nicht, wie die Mama, nachdem wir uns die Knie aufgeschlagen haben und genau solche Gummibärchen zum Trost bekommen haben. Aber für kurze Zeit spüren wir wieder die Umarmung, die wir so dringend nötig hätten, wenn wir mal wieder nur Ablehnung oder gar Schläge und Tritte erleben. Wir spüren den Trost der Schokolade, den wir so dringend nötig hätten, weil mal wieder alle Anträge abgelehnt wurden, der Nachtdienst ausfällt und das Fieberthermometer 38,9 zeigt. Vor allem pflegende Angehörige sind solchen Belastungen täglich und dauerhaft ausgesetzt, das belastet.

Es würde also keinen Sinn machen, wenn ich mit ausgestrecktem Finger auf die Schokolade, das Bier und den Weingummi zeige und verkünde "das müssen wir wegstreichen, dann klappts auch mit dem Gewicht". Natürlich, dem wäre schon so, aber für mich ist dieser Weg keine Alternative, denn wenn es so einfach wäre, würde es ja jeder ganz einfach umsetzen.

Wie also sieht denn eine Ernährungsberatung - also mal eine "normale", keine Sondenkostumstellung - bei mir überhaupt aus? Selbstverständlich müssen wir erstmal den Status Quo ermitteln. Das ist eigentlich der hässlichste Teil für alle Beteiligten, weil es viel Arbeit bedeutet, jedes Bonbon zu notieren und jeden Schluck Cola und weil man sich auch irgendwie nackig fühlt, wenn man "zugeben" soll, dass man isst, wie man isst. Wenn es schwarz auf weiß zu lesen ist, wird einem ja häufig selbst schon klar, an welchen Stellschrauben man drehen darf, damit sich etwas positiv verändert. Was sich jeder bewusst machen darf ist: Es gibt per se keine schlechten oder gar verbotenen Lebensmittel. Außer jemand hat eine Allergie, aber das ist etwas anderes.

Um ein Ernährungsprotokoll kommen wir leider nicht herum. In diesem Protokoll frage ich auch ab, wann und wo und mit wem das, was verzehrt worden ist, verzehrt wurde. Ich frage Gefühle ab und Schmerzen. Manchmal lässt sich so schon ein Schema erkennen, an dem wir dann arbeiten dürfen. Normalerweise formuliert man spätestens an dieser Stelle Ziele. Ein kurz- ein mittel- und ein langfristiges Ziel. Und es gibt eine Hausaufgabe bis zum nächsten Termin. Eine kleine Änderung, von dem der Klient oder die Klientin denkt, sie ist besonders leicht umzusetzen, soll in Angriff genommen werden. Außerdem bitte ich darum, sich nach jeder Mahlzeit kurz zwei Minuten Zeit zu nehmen um sich ein paar Fragen zu stellen: Warum habe ich jetzt gegessen (Hunger, Frust, Einsamkeit, Traurigkeit, Stress etc.)? Wie fühlt es sich jetzt an (bin ich angenehm satt, liegt es mir schwer im Bauch, habe ich noch Hunger etc.)? und genau diese Frage nach etwa einer halben Stunde nochmal überprüfen. Die Ergebnisse bitte ich zu notieren. Auch das mag anfangs etwas lästig erscheinen, aber nur so können wir selbst erkennen, was von dem, was wir essen, uns überhaupt gut tut. Dieses Fazit dauert nach ein paar Tagen nicht mehr lang und findet selbstverständlich statt.

Wenn wir Schritt für Schritt ein Gefühl für unseren Körper, für unseren Bedarf entwickeln, sind Änderungen in unserem Essverhalten kein "ich muss" mehr, sondern passieren ganz selbstverständlich. In dem Augenblick, in dem ich davon überzeugt bin, dass ich es wert bin, in einem fitten, gesunden und leistungsstarken Körper zu stecken, werde ich daran arbeiten, genau diesen Körper zu erschaffen.

Nein, der Weg ans Ziel ist leider nie linear, weil meist viel Leben dazwischen kommt. Es ist normal, dass es Rückschläge gibt, dass es Stagnation gibt, das ist normal und kein Scheitern. Wir sind in solchen Situationen einfach an einem weiteren Punkt angekommen, an dem wir uns wieder neu orientieren dürfen. Sobald wir einen neuen Weg für uns gefunden haben, geht es wieder gut weiter.

Auch bei mir ist das so. Mein Vorteil besteht darin, dass ich als Ernährungsberaterin natürlich das entsprechende Werkzeug an der Hand habe, um auch in der Theorie sicher zu wissen, was sinnvoll ist und was nicht sehr zielführend ist. So gelingt es mir natürlich immer wieder recht schnell, auf der richtigen Spur zu sein. Aber niemand darf denken, dass ich dauerhaft ohne das eine oder andere Extra lebe. Das darf auch ich mir gönnen, wenn mir danach ist. 

Vor einem Ernährungsprotokoll muss sich also bei mir niemand fürchten und auch nicht vor starren Ernährungsplänen und Verboten. Davon halte ich nichts. Ich möchte ein gutes Gefühl für eine Ernährung vermitteln, die individuell für den jeweiligen Menschen passt und für schlechtes Gewissen keinen Raum lässt, sondern nur Raum für Feedback und Impulse. Damit ist gesunde Ernährung möglich, ein gutes Körpergefühl auch und im Idealfall fühlt sich am Ende jeder so fit und energiegeladen wie lange nicht. Und ich bin nicht diejenige, die wegen Ernährungsgewohnheiten schlecht denkt geschweige denn verurteilt. Versprochen!

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