Heute muss es mal raus

Wir haben Urlaub. So richtigen Urlaub. Mit Ausschlafen, Pflege unserer Maus abgeben, Ausflügen, langen Spaziergängen, Seele baumeln lassen. Also eigentlich. So war es wenigstens geplant. Aber erstens kommt es anders und zweitens als man denkt. Dabei hatten wir einen Tapetenwechsel dringend nötig. Endlich raus und mal was anderes sehen.

Leider ist die Phase von Unpässlichkeit und Krankheit nicht abgerissen und statt zu zweit einen Stadtbummel in Memmingen zu unternehmen, während wir unsere Maus gut versorgt und bestens bespaßt wissen, haben wir zu dritt einen Ausflug in die Notaufnahme gemacht. Schon wieder hohe Entzündungswerte, schon wieder Antibiose. Wir mussten nicht bleiben, sondern durften wieder zurück ins Hospiz, aber jetzt merke ich, wie sehr am Ende ich eigentlich bin.

Richtig funktionieren tu ich nicht mehr. Entscheidungen treffen fällt mir schwer, entspannt abwarten geht gar nicht mehr. An Ausschlafen ist leider nicht zu denken, weil mein Rücken schmerzt von der viel zu weichen Matratze, also war ich heute Früh schon laufen so wie die letzten zwei Tage. Wobei, heute hab ich es erst gar nicht mit Joggen probiert, ich bin gleich gewalkt. Mit 20 Kilo Übergewicht, Rückenschmerzen, zwei kaputten Bandscheiben und einem kaputten Knie ist joggen ohnehin nicht die erste Wahl der Fortbewegung.

Ich wollte den Kopf frei kriegen, mal gar nichts denken, die Gegend genießen, aber es klappt nicht. Die Gedanken kreisen und ich finde keine Auswege. Heulen wollte ich vor lauter Wut und Verzweiflung, aber es kamen keine Tränen mehr. Schreien wäre gegangen, ich war ganz allein, es hätte mich niemand gehört, aber ich hatte keine Kraft zu brüllen. Es muss aber raus. Es ist soweit, dass es mich zerreißt, wenn ich die Ungerechtigkeit, die Wut, die Frustration nicht endlich in die Welt schreien kann.

Dabei weiß ich, dass ich verglichen mit anderen Familien in ähnlichen Situationen noch auf sehr hohem Niveau jammere, aber mich kotzt es langsam an. Die Windmühlen, gegen die wir kämpfen müssen, die Verlogenheit unserer Gesellschaft, die Kämpfe, die nie aufhören und oft so sinnlos erscheinen.

In der Theorie gibt es viele Hilfen, leider sieht die Praxis anders aus. Wo ist denn die spontane Hilfe, wenn unsere Maus mal krank ist und wir beide arbeiten müssen? Ja, dummerweise haben wir beschlossen, nicht von Hartz IV zu leben, sondern für unseren Lebensunterhalt selbst zu sorgen. Das ist nicht ganz einfach und mit einem schwerst mehrfach behinderten Kind ohnehin nicht. 

In der Theorie haben wir mindestens 15 Nachtdienste im Monat. Praktisch wäre uns sogar jede Nacht ein Nachtdienst genehmigt. Aber erstens wollen wir das gar nicht - also ich will es nicht - und zweites gibt es gar keinen Pflegedienst, der das leisten kann. Für die 15 Nächte haben wir seit einem Jahr zwei Pflegedienste. Den Dienstplan für Juni haben wir schon, da sind es grade mal zehn. Vorausgesetzt es wird nicht wieder jemand krank oder zu einem anderen Kind abgezogen, das noch mehr Anspruch hat auf Betreuung, denn leider ist unser Kind noch nicht behindert genug. Zehn Nächte - das wird hart. Selbst in guten, gesunden Nächten stehen wir drei bis fünf Mal auf. Daher schlafen wir schon seit Jahren getrennt. Damit der jeweils andere wenigstens schlafen kann. Dabei müssen wir noch dankbar sein, dass wir überhaupt einen Pflegedienst haben, dass überhaupt noch jemand kommt. So viel Glück haben andere Familien erst gar nicht.

Wie wird das, wenn die Maus in die Schule kommt? In der Theorie bekommt sie eine Schulbegleitung, die sie unterstǘtzt. In der Praxis müssen wir erst jemanden finden und weil das gar so schwierig ist, macht das jetzt eine Fallmanagerin. Aktuell sieht es so aus, dass unser Kind nur dann die Schule besuchen darf, wenn ein Schulbegleiter gefunden und auch anwesend ist. Selbstverständlich haben wir eine Schulpflicht in unserem Land. Aber die wird für Kinder mit Besonderheiten halt irgendwie ausgelegt. Dabei dürfen wir nicht mal jammern. Immerhin kommt jemand, der sich kümmern will und immerhin haben wir eine Lösung in der Theorie.

Im Zusammenhang mit dem Schulbeginn sind noch viele Fragen offen, viele davon tatsächlich existentiell und ich kann nichts tun als abwarten, bis Entscheidungen getroffen, Personal gefunden ist und die Zeit gezeigt haben wird, wie es weiter geht. Ich will aber nicht mehr warten, geduldig sein. Ich will mal wieder ein Leben. Für mich und für meine Familie.

Soziale Kontakte gibt es kaum noch. Wir haben in den letzten Jahren mehr Verabredungen abgesagt als wahrgenommen. Wir sind nicht mehr interessant. Ohne Nachtdienst mit den Nachbarn grillen, bedeutet nur Stress und dass einer im Kinderzimmer festhängt und einen frühen Nachtdienst am Wochenende kriegen wir selten. Mal essen gehen - geht schon, so einmal im Monat mit entsprechender Vorplanung, vorausgesetzt wir haben mal einen frühen Nachtdienst.

Wo sind die spontanen Hilfen, die echte Hilfen wären? Wo sind die Möglichkeiten der Entlastung, die zuverlässig oder gar mal auf Zuruf sich auftun? Entweder bin ich schon blind und sehe sie nicht mehr oder es gibt sie tatsächlich nicht für uns. Wer immer welche kennt, immer her damit.

Bis es einen Ausweg gibt aus diesem Dilemma, werde ich die Zeit nutzen, die ich hier in unserem "Urlaub" habe und laufen. Davonlaufen kann ich leider eh nicht. Genügend Puste muss ich auch übrig lassen, denn der nächste richtige Urlaub findet leider erst wieder in einem Jahr statt. Ich fürchte bis dahin muss es noch öfter mal raus. Dabei darf ich nicht mal jammern, andere Mütter kommen niemals raus, müssen immer selber pflegen, haben gar keine Entlastung, nie. Sind immer auf Anschlag. Aber da gibt es auch die Mütter, die die Schnauze schon so voll haben von unzuverlässigen Helfern, von leeren Versprechungen, dass sie sich einfach Auszeiten nehmen. Einfach mal so, zwischendurch. Bis ich soweit bin, dauert es wohl noch. Mein Pflichtbewusstsein hält mich ab. Aber irgendwann werde ich auch so - hoffentlich. Denn nur wenn ich einigermaßen in der Reihe bin, kann ich mich um unser Prinzesschen kümmern. Daher hoffe ich noch auf ein klein wenig Urlaub und Erholung und der Frust, der ist jetzt fürs Erste draußen.

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